Vorteile der Krippenbetreuung für Kinder aus prekären Familienverhältnissen?
Die Erzieherin M betreut seit geraumer Zeit Kinder im Schulalter aus sozial schwierigen, prekären Familienverhältnissen, die meist bereits schon vor Vollendung des ersten Lebensjahres in Frühbetreuung gegeben wurden und seitdem umfassende institutionelle Betreuung und Förderung erhalten haben.
Entgegen der vielfach geäußerten Meinung (die gerne auch als Ergebnis verschiedener Studien bezeichnet wird), dass bereits frühe, außerfamiliäre Betreuung besonders Vorteile für sozial benachteiligte Kinder bedeute, macht die Erzieherin M folgende Erfahrungen:
Meine derzeitige Arbeit befasst sich mit älteren Kindern, die Extremfälle der Frühbetreuung waren. Sie stammen aus zerrütteten Familien, haben psychisch instabile Eltern, teilweise mit Suchtproblematik.
Diese Kinder wurden bereits früh, umfassend und durchgängig institutionell betreut und obwohl die frühe Fremdbetreuung ihren Entwicklungen hätte zuträglich sein sollen, wie es oft betont wird, sind diese Kinder kaum in der Lage dazu, zu anderen Menschen Beziehungen einzugehen. Ebenso wenig haben sie Beziehung zu sich selbst, ihren inneren Vorgängen und Gefühlen. Auch fehlt es ihnen an einem Gefühl für Nähe und Distanz, oft sind sie distanzlos. Es fehlt ihnen jegliche Frustrationstoleranz, sie haben oft nicht einmal angemessene Sinneswahrnehmungen, geschweige denn die Möglichkeit ihre ursprünglich (sicherlich oft vorhandenen) kognitiven Fähigkeiten zu erreichen oder auszubauen. Sie haben meist keine Möglichkeit, ihre Affekte zu regulieren: Manche neigen dazu, sich selbst zu verletzen, andere werden aggressiv gegen andere. Sie reagieren auf Stress externalisierend und schlagen zu. Teilweise besteht ihre Stärke darin, gezielt zu provozieren. Andere wiederum reagieren auf Stress mit einer Art Versteinerung (Freezing): mit einem Blick der ins Leere geht und sind dann nicht ansprechbar. Einige sind in ihrer Entwicklung insgesamt auf dem Stand eines Kleinkindes.
Sie sind die verlorenen Seelen der postmodernen Betreuungsindustrie und ich empfinde sie dennoch als so überaus wertvoll und einzigartig, denn sie zeigen uns ohne Worte, was wir der nächsten Gegenration antun, wenn wir so weitermachen.
Alle diese Kinder hätten sich nach der gängigen Meinung und vermeintlichen Studienlage einigermaßen angemessen entwickeln müssen, da sie weitgehend schon ab dem Alter von wenigen Monaten durchgängig und umfassend fremdbetreut und angeblich auch entsprechend gefördert wurden.
Meine Erfahrungen lassen entgegen der verbreiteten Meinung vermuten, dass sich für solche Kinder und ihre Entwicklung keine Vorteile durch Krippenbetreuung ergeben.
Das belegt auch die wissenschaftlich gut fundierte NICHD-Studie: Für solche Kinder sowie für Kinder, die schon früh und umfangreich in Tagebetreuung waren, wurden gleichermaßen Nachteile auch noch im Alter von 15-Jahren festgestellt (unabhängig der Betreuungsqualität). Es wurde darüber hinaus festgestellt, dass sich Stressbelastung von Tagesbetreuung und familiärer Vernachlässigung und somit die Risiken beider Effekte addierten. Die Krippenbetreuung wirkte sich also für die Kinder aus prekären Familien nicht kompensatorisch sondern, ganz im Gegenteil: die Risiken und Nachteile beider Umstände bzw. Betreuungsformen summierten sich.
(Roisman et al. Child Development, May/June 2009, Volume 80, Number 3, Pages 907-920 https://www.jstor.org/stable/29738661?seq=1 – page_scan_tab_contents),
Siehe auch:
https://www.fachportal-bildung-und-seelische-gesundheit.de/faz-artikel-4-april-2012/
Dieselbe Erzieherin M berichtet in ihrem Beitrag:
„Wald-Kita: immer eine gute Lösung?“
über Erfahrungen in einer Wald-Kita/Krippe und auch verschiedenen anderen Krippen.
Hier kommen Sie zum Beitrag: Waldkita-immer gut?