Einblicke in den Krippenalltag

Berichte einer langjährigen Krippen-/Kita-Betreuerin 

Rückmeldung zur Arbeit: „Das Wohl der Kleinsten –
Auswirkungen von Kita-Betreuung für Kinder unter 3 Jahren“

Am 11.07.2018 schrieb Frau A.

Liebe Frau Geist,

ich möchte Ihnen von ganzen Herzen für Ihren Bericht  „Das Wohl der Kleinsten …“ danken.
Er fasst zusammen, was ich immer schon gefühlt und erlebt habe.
Ich bin Sozialpädagogin, arbeite seit 20 Jahren mit Kindern.

Die Kinder werden immer auffälliger, die Bindung zwischen Kindern und ihren Eltern erscheint mir zunehmend  versachlicht und distanziert.
Themen wie die beste Brotdose, Förderkurse und der alltägliche Kampf um eine zuckerfreie Ernährung ersetzen das Wesentliche:
Die Zeit miteinander.

Ich selbst habe drei Kinder.
Meine Tochter ist 16 Jahre alt, als sie ein Kleinkind war, hatte ich genug Gelegenheit, mich mit anderen Müttern zu treffen und die Kinder spielen zu lassen.
Mein kleiner Sohn ist 15 Monate alt, er ist das einzige Kind in den Spielgruppen (insgesamt 25 Kinder, natürlich nur bis zum 1.Lebensjahr), welches noch nicht in der Krippe ist.
Wir sind oft allein auf den schönsten Spielplätzen.

Ich gelte im Freundeskreis mit meiner Meinung als rückständig, Glucke, Helikopter Mutter, und zum Arbeiten zu bequem. Ich könne nicht loslassen.

Das Wissen, um die feste Bindung in den ersten Lebensjahren und die dann folgende selbstständige Trennung vom Kind zum Erwachsenen fehlt hierbei.
Nur wenn ein Kind fest gebunden ist, wird es sich aktiv und selbstbestimmt lösen.

Auch der kritische Blick auf die Kita fehlt völlig, das ist ja „Fachpersonal“.
Ich habe im U3 Bereich gearbeitet und konnte teilweise nachts nicht mehr schlafen, bei dem, was ich erlebt habe.
Die Zukunft mit Kindern, welche diese Erfahrungen machen, verursacht in mir große Angst.

Das viel zitierte „schlechte Gewissen“, der Eltern fehlt immer häufiger.
Fremdbetreuung unter drei ist salonfähig geworden.
Kein schlechtes Gefühl mehr – im Gegenteil:
Die Möglichkeiten voll ausnutzen, je  länger, desto besser!
Das schlechte Gewissen ist nun bei den Müttern, die ihr Kind zuhause betreuen.
Sie verwehren ihrem Kind ja Fördermöglichkeiten.

Und der viel zitierte Satz: „Mein Kind braucht andere Kinder! Es geht so gern in die Kita!“
Ja, weil es mit den Eltern kooperiert und keine andere Wahl hat. Es passt sich an – aber um welchen Preis!

Was für eine Welt!

Anfänglich war ich eine Befürworterin früher Betreuung, weil es den Frauen und Familien mehr Freiheiten (individuelle und finanzielle) erlaubt.

Ich bin eine emanzipierte Frau, liebte meinen Beruf, wollte schnell wieder einsteigen.
War Gleichstellungsbeauftragte.
Ich war voller Energie für die Frauenquote, für den schnellen Wiedereinstieg, habe für die Samstagsöffnung von Kitas gekämpft.
Bis ich gesehen habe, wie die Realität ist.

Nachdem ich mich für die Rückmeldung bei Frau A. bedankt hatte und Interesse an weiteren Erfahrungen zeigte, fuhr sie fort zu berichten:

Bei uns gibt es die „Düsseldorfer Familiengruppe“, darauf ist die Stadt sehr stolz.
17 Kinder, davon 11 unter 3 Jahren zu 3,5 Stellen – eine halbe Stelle mehr als sonst in der Stadt Düsseldorf.

Die T2 Gruppe besteht aus 20 Kindern, davon 6 Kinder ab 2 Jahren – zu drei Stellen.
Das ist sehr anspruchsvoll, da oftmals ca. 10 Wickelkinder gleichzeitig vorhanden sind.

Viele Eltern – aber auch „Fachleute“ ahnen oft nicht, was der Alltag in der Krippe bzw. Familiengruppe (17 Kinder, davon 11 unter 3 Jahren, 3,5 Betreuer) wirklich bedeutet.
Oft sind es nur 2-3 Erzieher, die in der Gruppe sind.
Davon ist einer permanent am wickeln oder füttern.
Ich kenne keine Erzieherin, die das gern macht.
Für ein liebevolles Wickeln, mit Schmusen ist sowieso keine Zeit.

Und offen gelebte Abscheu – ist etwas anderes.
Was dies jeden Tag mit den Kindern macht, werden Sie besser als ich einordnen können.
Abscheu ist der Regelfall, einige können das besser verbergen – andere zeigen es ganz ungeniert – vor dem Kind („Oh man, ich habe wieder eine Kackwindel. Schon wieder Pech. Besonders der XY stinkt so widerlich“).

Die Kinder sind viel sich selbst überlassen – Kummer und Weinen wird sanktioniert.
Bilder von weinenden Kindern nach ihrer Mama, die noch ausgeschimpft oder ignoriert werden – welch Dramen.

Der neuste Trend ist hier der Familienservice von vielen Firmen (Bayer, UCB, Metro , Henkel, Mercedes)
Diese bieten Back-up Betreuung an.
In den Schließungszeiten der Kita (nach 16.30 und in den Betriebsferien können die Kinder in eine andere Kita gebracht und dort weiter betreut werden – ohne gute Eingewöhnung, denn sie sind ja Betreuung gewohnt, ggf. mit Übernachtung (alles U3!).

Ich könnte Ihnen noch so manches berichten, aber mein kleiner Sohn ist inzwischen wach und fordert sein Recht.
Ich habe leider Schreckliches gesehen und es wird immer wieder neu getoppt.
Die aktuelle Entwicklung lässt mich fassungslos und voller Schrecken in die Zukunft blicken.

Weiter schrieb Frau A:

Letztendlich habe Ich vor 4 Jahren gewechselt.
Von der U3 Betreuung in die ambulante Jugendhilfe.
Es mag für Außenstehende paradox klingen, aber dann konnte ich besser schlafen.

Ich arbeite jetzt mit Jugendlichen, die viel Gewalt und Vernachlässigung erfahren haben, aber es geht mir besser. Denn jetzt wird über diese Erfahrungen gesprochen und sie werden nicht verleugnet.

Wissen Sie, was mich am meisten berührt?
Ich habe Kinder gesehen, deren Mimik so ausdruckslos war, dass es mich tief erschreckt hat.
Gruselig.
Kein Gefühl, gleichgültig, wie abgespalten.

Oder Kinder, die sofort eine vertrauliche Beziehung zu fremden Erwachsenen eingingen,
ohne Scheu, ohne Fremdeln. Einfach wahllos.

Kinder die sich lieber von der Erzieherin, als von der Mutter trösten ließen.

Die Eltern denken sich nichts dabei! Warum?

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf?

Zunächst einmal habe ich viele Einrichtungen gesehen.
Ich war unter anderem bei der Stadt auf einer Springerstelle; innerhalb dieser Position habe ich viel gesehen und konnte mich viel austauschen.

Es gab tatsächlich eine Zeit (ein Kindergartenjahr), welches ich als „gute Bedingungen“ bezeichnen würde.
Durch sehr gutes Personal, eine sehr reflektierte Vorgesetzte, eine gute Zusammensetzung der Kinder (keine Verhaltensauffälligkeiten) und Eltern, die sich um kurze Betreuungszeiten bemüht haben (somit kann Vor-und Nachbereitung in der kinderfreien Zeit erfolgen).

Es waren 5 Pädagogen für 16 Kinder, davon ca. die Hälfte unter 3 Jahren.
Zusätzlich gab es zwei sehr fähige Praktikanten in dieser Gruppe.
Es war so geregelt, dass keine Erzieherin in der Eingewöhnung (August bis Oktober) Urlaub hatte.
Es wurde da auch niemand krank.

Das jüngste Kind in der Einrichtung war 18 Monate alt. In dieser guten Zeit, innerhalb dieser Kita, waren die Kinder viel körperbetonter. Sie suchten den Kontakt, es war Zeit (nicht immer, aber meistens) dafür.
Die Kinder wurden mit Kosenamen bedacht, verschmust, gelacht. Die Atmosphäre war gut.
Die Kinder blieben im Schnitt von 9.00-14.30/15.00h. Jede Erzieherin hatte ein bis zwei Kinder unter drei als Bezugskind. Und die Atmosphäre unter dem Personal stimmte, was auch sehr selten ist.

Die Kinder waren fest gebunden, sie waren stabil. Sie bevorzugten ihre Bezugserzieherin, vermieden andere Kontakte zu fremden Erziehern. Sie weinten und ließen sich trösten, zeigten auch Kummer und Wut.
Dieses Jahr war wirklich schön.
Ein Jahr unter vielen Erlebnissen, die leider anders waren.

In meiner schlimmsten Erfahrung, war ich für zwei Tage in einer privaten Kita eines großen Pharmaunternehmens.
Die Öffnungszeiten waren 10 Stunden täglich.
Pro Gruppe 20 Kinder, 15 unter drei.
Wie der offizielle Schlüssel war, weiß ich nicht.
Tatsächlich waren wir zu zweit oder zu dritt. Das Stammpersonal war jung und schlecht ausgebildet.

Jedes Kind hat geweint. Jedes!
Manchmal 8/9 Kinder zeitgleich.
Es war ein Blick in die Hölle. Wirklich, ich übertreibe nicht.
Die Hoffnungslosigkeit und die Verzweiflung, ich konnte das nicht ertragen.
Ich bekam als Springer dort gutes Geld, ich habe es abgelehnt, niemals wieder!
Die Eltern haben z. B bestimmt, wieviel das Kind essen soll, mochte es nicht soviel, dann wurde es unter Druck gezwungen, auf die Menge zu kommen (aber es war Bio Essen!)-dieser Punkt war den Eltern wichtig!
Die Bedingungen der Betreuung, das Personal war zweitrangig.

Irgendwann wurden die Eltern einfach angelogen.
Es gab zwei große Gruppen von Kindern, die eine Gruppe war aggressiv und motorisch sehr unruhig. Sie erfuhren viel negative Aufmerksamkeit.
Die andere Gruppe war sehr emotionsarm, teilweise fast schon apathisch.
Die Gesichter der Kinder, besonders das von einem kleinen Mädchen, ich werde es nie vergessen:
Starr, teilnahmslos.
Es klingt wie in einer billigen, amerikanischen Doku. Aber es war exakt so.
Dafür hatte die Kita hohe Standards, Hygiene ging vor allem anderen.
Ich hatte den Kindern die Windel ohne Handschuhe gewechselt (da kannten mich die Kinder ca.10 Minuten lang, sie gingen ohne Protest mit, es war ihnen egal).
Ohne Handschuhe – das war für das Personal ein Fauxpas. Mein Einwand, was die Handschuhe für ein Signal ans Kind sendet, wurde klar beantwortet, „Das ist den Kindern doch egal, das bekommen die nicht mit“.
Kräuter und Gemüse aus dem eigenen Garten (wieder Zeit ohne Kind, denn die Erzieher haben da Unkraut gerupft).
Und ganz wichtig: Ein native speaker pro Gruppe!
Nur Beziehung, Nähe, Wärme, Zeit fehlte… Es schien niemanden zu stören.

Liebe Frau Geist, keines meiner Beispiele ist überzogen dargestellt.
Wissen Sie, was das Schlimme ist?
Man gewöhnt sich daran.
Ich habe ein Kind betreut, „die Kleine“ ist jetzt selbst im Anerkennungsjahr zur Erzieherin.
Nach ihrem ersten Tag hat sie mich weinend angerufen und mir folgenden Satz gesagt:
„U3 Betreuung sollte verboten werden“.
9 Monate später sprach sie davon, dass „viele Kinder verwöhnt sind und nur nerven“.

Ausflüge – von den Eltern hochgeschätzt:
für die Kinder bedeutet das noch mehr Anpassung, noch mehr Druck, noch mehr Stress.
Was hat ein Kind davon, wenn es mit 20 anderen in den Zoo fährt?
Die Fahrt dahin ist Stress pur. Mit 20 kleinen Kindern Bus fahren, heißt: Druck, Sanktionen, Drohen und Stress! Im Zoo muss immer ein Kind aufs Klo und die anderen warten…
An die Tieren selbst ist keine Zeit den Kindern was zu erklären, sie zu begleiten etc.
Die Aufmerksamkeit der Erzieher liegt darauf, die Kinder unter Kontrolle zu halten.
Warum denken Eltern, Ausflüge seien wertvoll? Es ist eine Strafe für die Kinder und die Pädagogen.

Ich habe viel Liebloses, viel Ungerechtes, viel Entwürdigendes gesehen und viele, viele Kinder die aufgeben und emotional verarmt sind.

Ein Beispiel:
Ich komme in eine Gruppe, N. (1Jahr 10 Monate) weint, steht allein in der Gruppe und jammert leise: „Mama, Mama…“
Ich spreche die Kollegin an, warum sie das Kind nicht tröstet.
Die Antwort : „Nachdem, was die gestern gebracht hat, kann die ruhig mal weinen“
Selbstredend wurde den Eltern nichts davon berichtet.

Das ist typisch.
Ich persönlich glaube, dass viele Kollegen, die Kinder unbewusst, als „böse“ oder „bestrafungswürdig“ einordnen, um eine Legitimation zu finden. Sonst ist das nicht zu ertragen. Platt formuliert: „Das Kind verdient es nicht anders“.

Im U3 Bereich gibt es die höchste Fluktuation des Personals.
„Gute“ Kollegen nutzen den Bereich als Einstieg und wechseln dann, sobald der Vertrag unbefristet ist.
Andere werden dorthin strafversetzt.
Sie finden nur wenige „Perlen“, die mit vollem Herzen dabei sind. Wenn es sie gibt, dann sind sie oft krank. Den Job macht keine Kollegin, ohne mindestens zwei bis drei Krankheitswochen im Jahr.

Die Eltern beruhigen unbewusst ihr schlechtes Gewissen, indem sie sich in Diskussionen über Ausflüge, Bio- Essen, die besten Matschhosen, Früh-Englisch etc. aufreiben.

Ich gebe und gab meine Kinder ab ca. 3 Jahren in die Kita und nie mehr als 6 Stunden.
Aber das waren auch Ausnahmen, meist waren sie ca. 4-5 Std dort.
Eine kleine, heimelige, katholische, konservative Kita. Mit dem gleichen Personal seid 15 Jahren.
Erzieherinnen, die die Kinder mit „mein Schatz“ und Wangenkuss begrüßen. Ein Kleinod.

Das was ich Ihnen bisher geschildert habe, waren Einrichtungen von der Stadt. Mit der besten Ausstattung.
Ich habe private Einrichtungen gesehen.
Das ist unglaublich. Nach zwei Tagen, bin ich da nie wieder hin.
Aber die Eltern finden diese Einrichtung toll, bis 19.00h auf und ein native speaker.

Niemand möchte negatives zu U3 hören, daher drängt es mich so sehr, davon zu erzählen….

Daraufhin antwortete mir eine Erzieherin aus Stuttgart, welche diesen Bericht las, folgendermaßen:

erschütternd, leider kenne ich Vieles auch. Besonders die Gewöhnung…..
ich habe auch bei einigen jungen Frauen den Prozess mitbekommen, wie sie, unter dem Einfluss der Gruppenleitungen von anteilnehmenden, liebevollen ErzieherInnen, zu „effektiven“, “ konsequenten“,
„sich selbst schützenden“ Kolleginnen umgeformt wurden.

Ich habe erlebt, wie Kinder regelmäßig zum Essen gezwungen wurden, Kinder haben geheult und niemand durfte sie trösten…..

winzige Wesen sollten sich selbst anziehen, weil Selbständigkeit ja das Allerwichtigste ist, sie schaffen es aber nicht alleine in klebrige Söckchen….nicht einmal die anderen Kinder durften helfen.

Das verstößt natürlich alles gegen die Richtlinien der Stadt Stuttgart, aber keiner hat Einblick und es herrscht Wagenburgmentalität.

Herzlosigkeit und mangelndes Mitgefühl sind weit verbreitet, aber halt schwer messbar.