Autonomie-Entwicklung in der Krippe

von Gisela Geist

Manche Bindungsforscher, Therapeuten und Pädagogen vertreten folgende These: Wenn in der Krippe gewährleistet ist, dass das Kind eine gute Bindung zur BezugserzieherIn aufbauen kann, spreche nichts gegen Krippenbetreuung ab einem Jahr, da ein Kind ab diesem Alter in der Regel gut neben den Eltern zu wenigen weiteren Personen eine Bindungsbeziehung aufbauen könne.

Dabei sind sie sich grundsätzlich darüber einig, dass für die Beziehung zwischen BezugserzieherIn und Kind folgende Forderungen gelten müssen, damit ein Kind in seiner Entwicklung nicht beeinträchtigt wird:

  • Kontinuität in der Beziehung, möglichst keine Betreuerwechsel
  • Anbieten von Geborgenheit und Sicherheit (Bindung) durch feinfühliges, empathisch-zugewandtes und promptes Beantworten der kindlichen Signale
  • Achtsame, respektvolle Haltung gegenüber dem Kind
  • Beziehungsvolle Pflege und Eingehen auf seine individuellen Bedürfnisse

Ich habe mir die Realität in verschiedenen Krippen in Stuttgart näher angeschaut, im „Musterländle Baden-Württemberg“, mit der nach der Bertelsmann-Studie bundes­weit besten Betreuungssituation und einem offiziellen Betreuungsschlüssel im Bereich der unter Dreijährigen (U3), von 1 ErzieherIn zu 3 Kindern.

Dafür habe ich einen Fragebogen entwickelt und mit mehreren Krippen-Leiter­innen und ErzieherInnen gesprochen, privat und offiziell, was oft ein Unterschied ist.

Dabei hat sich folgendes Bild ergeben:

  • Der Kita-Ausbau für unter Dreijährige schreitet rasant voran. Die Einrichtungen werden immer größer, oft gibt es offene Gruppen – auch im U3-Bereich, die Nachfrage steigt enorm, ebenso die Betreuungszeiten.
  • Es gibt kaum noch Halbtagsangebote, sie können meist gar nicht mehr gebucht werden. In städtischen Kitas in Stuttgart wurde beispielsweise angegeben, dass 90 Prozent der unter Dreijährigen acht bis neun Stunden täglich betreut werden, etliche auch zehn Stunden, dasselbe galt für unter Einjährige.
  • Der Personalschlüssel 1 zu 3 hat sich nicht bestätigt – offiziell ist er bestenfalls 1 zu 4 bei Ein- bis Dreijährigen. Dabei muss zwischen Personal- und Betreuungsschlüssel unterschieden werden. (dazu mehr weiter unten).

Weiter hat sich gezeigt:

  • Häufige Betreuerwechsel sind in einer Krippe unvermeidbar. Neben einem hohen Krankenstand der ErzieherInnen gibt es in Kitas häufig Stellenwechsel, Teilzeit-Stellen, Abwanderung in andere Berufe.
  • Ein enormer Mangel an (guten) ErzieherInnen wird beklagt, „Springer“ aus anderen Gruppen/Kitas werden eingesetzt.
  • Selbst in Kitas, die davon weniger betroffen sind, ist ein Kind häufigen Betreuerwechseln ausgesetzt, weil „seine“ ErzieherIn gerade abwesend ist, z. B. aufgrund von Urlaubszeiten, Krankheit, Fortbildungen, Teambesprechungen, Elterngesprächen, Vor- und Nachbereitung, Organisation, Dokumentation, Gruppenwechsel, Schichtwechsel – wegen der langen Öffnungszeiten mit steigender Tendenz. „Kita+“ wird derzeit gefördert mit Öffnungszeiten rund um die Uhr, auch an Sonn- und Feiertagen. Der damit verbundene Schichtwechsel steigert den Betreuerwechsel noch weit mehr.
  • Die angegebenen Betreuungsschlüssel müssten, genau genommen, meist als „Personalschlüssel“ bezeichnet werden. Die Fehlzeiten und indirekt pädagogischen Arbeitszeiten sind nämlich darin eingeschlossen.
  • Kontinuität und Verlässlichkeit sind daher in einer Kita nicht gegeben. Hinzu kommt, dass selbst bei einem guten Personalschlüssel von 1 zu 4, unter Berücksichtigung der oben genannten Fehlzeiten auf eine BetreuerIn ca. sieben Kinder kommen – häufig auch mehr, wobei der Betreuerwechsel noch hinzukommt.
  • Besonders einfühlsame und engagierte ErzieherInnen fühlen sich oft überfordert und sind frustriert, weil sie trotz größtem Einsatz spüren, dass sie neben der notwendigen körperlichen Pflege, den individuellen Bedürfnissen der Kleinen nicht ausreichend gerecht werden können. Gerade solche ErzieherInnen suchen sich dann häufig einen anderen Beruf. Andere gewöhnen sich daran oder schützen sich, indem ihr Mitgefühl mit den Kindern zurückgeht.
  • Aufgrund der mangelnden Kontinuität (Betreuerwechsel) und eingeschränkten Möglichkeit der achtsamen, einfühlsamen Zuwendung kann in der Kita eine ausreichend intensive Bindungsbeziehung nicht gehalten werden, selbst wenn die Eingewöhnung positiv verlaufen sein sollte.
  • Gleichaltrige („Kinder brauchen Kinder“) haben nicht die notwendige Reife z. B. zu gegenseitiger Gefühlsregulation (mit der notwendigen Einfühlung und emotionalen Stabilität). Ganz im Gegenteil sind sie ihren unreifen Emotionen und Bedürfnissen gegenseitig ausgeliefert, was eine weitere Belastung bedeutet. Bei Konfliktlösungen gilt das Recht des Stärkeren.
  • In der Gruppensituation ist es oft laut, es gibt dauernd Bewegung und Ablenkung. So kann die Konzentrationsfähigkeit der Kinder beeinträchtigt werden und es besteht die Gefahr von Reizüberflutung.
  • Das Kind muss sich zudem ständig auf neue Situationen und BetreuerInnen einstellen und anpassen, gerade in einer Phase der entwicklungsbedingten Ich-Bezogenheit, wo es darum gehen sollte, dass das Kind auf dem Boden einer sicheren Bindungsbeziehung seine eigene, noch unsichere Identität erfahren und seine Autonomie mit allen Gefühlen, die diesen Prozess begleiten, erfahren und erproben kann. Die Gefühlsäußerungen der Kinder sind in der Krippe jedoch tendenziell reduziert, sie zeigen sich meist brav und angepasst. (siehe dazu den Beitrag unter: Autonomie-Entwicklung in sicherer Bindung).
    Oft werden in der Krippe schnell gelernte Fertigkeiten, wie z. B. selbständiges Essen oder Ankleiden oder, dass die Kleinen weniger die Nähe zu Erwachsenen oder deren Hilfe suchen, als Fortschritte in der Autonomieentwicklung interpretiert. Dagegen sind sie eher als notwendige Anpassungsleistungen zu verstehen (siehe Autonomieentwicklung in sicherer Bindung).
  • Es gibt kaum die Möglichkeit, die verschiedenen Erfahrungswelten – ganz besonders die in der Krippe und diejenige zu Hause – zu überbrücken bzw. zu verbinden. Ein Kind kann z.B. noch nicht verstehen, dass Mama oder Papa nicht wissen, was es in der Krippe erlebt hat. So kann es sehr irritiert sein, wenn sie nicht verstehen, was es ihnen davon mitteilen will. Die Erlebniswelten bleiben so weitgehend getrennt voneinander und können schwer zu einer Einheit zusammengefügt (integriert) werden. Die Bildung einer kohärenten Persönlichkeitsstruktur kann dadurch erschwert werden.
  • Auch in Kita-Fachkreisen wird häufig geäußert: In der Kinderkrippe kann Bindung nicht gelebt werden, das ist die Aufgabe von zu Hause. Diese Bindungserfahrung ist dann aber geprägt von Trennungserfahrungen mit Verlassenheitsängsten. Je jünger das Kind, desto weniger gut kann es die Zeit in der Krippe – je länger desto schlechter –  emotional überbrücken. Es fühlt sich verloren, haltlos und wie abgeschnitten von seiner Sicherheit gebenden Basis. Das Kind kann dabei vernichtenden, existentiell bedrohlichen Ängsten ausgeliefert sein, die traumatisch wirken können.

Wollte eine Krippe – einschließlich der oben genannten Fehlzeiten und indirekt pädagogischen Arbeitszeiten – den Großteil der von den Fachleuten übereinstimmend geforderten Qualitätsansprüche erfüllen, würde noch weitaus mehr unmittelbar pädagogische Arbeitszeit der ErzieherIn mit den Kindern verlorengehen.
Hinter dem geforderten Eltern-ErzieherIn-Kind-Dreieck verbirgt sich beispielsweise ein regelmäßiger, intensiver Austausch zwischen BezugserzieherIn und Eltern über das Kind; des Weiteren Hausbesuche, regelmäßige Elternabende und weitere gemeinsame Aktivitäten wie Ausflüge und Feste.

Weiter wird neben regelmäßiger externer Fortbildung auch interne Fortbildung gefordert mit Supervision, pädagogischer Reflexion, sowie Selbst- und Team-Reflexion. Insgesamt würde das einen bedeutenden Anteil der Arbeitszeit ausmachen.

Um einen empfohlenen, tatsächlichen Betreuerschlüssel von 1 zu 3 zu erreichen, wäre das Brutto-Verhältnis (Personalschlüssel) ErzieherIn zu Kind dann etwa 1 zu 2, wenn nicht annähernd 1 zu 1. Bei einer Ganztagesbetreuung von acht bis neun Stunden hätte ein Kind dann immer noch zwei bis drei verschiedene Betreuer am Tag. Andernfalls dürfte die Krippe höchstens halbtags geöffnet sein, um ständige Betreuerwechsel zu verhindern.

Dies mag etwas zugespitzt klingen, aber solche genauen Betrachtungen machen uns deutlich, welch geringe Chance auf Realisierung die Aufzählungen von Qualitätsanforderungen haben, wie sie häufig genannt werden.  Solche Forderungen oder Beschreibungen sind ja an sich richtig, sie wecken aber im Zusammenhang mit der Krippe/Kita U3 oft nur falsche Erwartungen. Außerdem wären sie kaum zu finanzieren.

Als analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin habe ich in meiner 30-jährigen Arbeit erfahren, dass Trennungserfahrungen und mangelnde Zuwendung, besonders während der ersten drei Lebensjahre, oft Angststörungen oder andere schwer zugängliche psychische und gesundheitliche Beeinträchtigungen bei Jugendlichen und Erwachsenen (Eltern) verursachen.

Kleinen Kindern sind die psychischen Folgen von Trennungs- und Mangelerfahrungen, wie sie in der derzeit üblichen Krippenbetreuung zwangsläufig gegeben sind, oft noch nicht deutlich anzumerken. So kommen Studien – die sich auf die ersten Lebensjahre der Kinder beschränken – immer wieder zu dem Ergebnis, krippenbetreute Kleinkinder entwickelten sich grundsätzlich normal.
(Siehe unter: Übersicht bekannter Studien
oder: Widersprüchlichkeit vieler empirischer Studien)