„Kinder brauchen Kinder“

von Gisela Geist

Kleine Kinder freuen sich oft über ihresgleichen, Spielzeiten und Begegnungen mit anderen Kindern können anregende Erfahrungen sein. Es können sich auch schon deutliche Sympathien entwickeln.

Die achtsame und liebevolle Begleitung einer vertrauten Bezugsperson ist als sicherer Rückhalt für das kleine Kind dabei noch wichtig. Sind dagegen die Kleinen weitgehend sich selbst überlassen, wenn sie sich mit ihren unreifen Emotionen und Bedürfnissen begegnen, sind sie häufig überfordert. Denn sie haben z.B. noch kein Gefühl dafür, was es für ein anderes Kind bedeuten kann, wenn sie ihm beispielsweise ein Spielzeug wegnehmen, es umstoßen, beißen, oder sich auch nur von ihm abwenden. 
Denn ein Kind unter 3 Jahren ist noch in der Phase der Identitätsentwicklung. Hier geht es in erster Linie um die Entwicklung und Erfahrung seines „Selbst“. Es ist dabei naturgemäß noch ganz auf seine eigenen Empfindungen und Vorstellungen fixiert, denn es ist ja gerade dabei, sich erst einmal selbst zu erfahren. Es ist daher noch ganz egoistisch. In der Psychologie spricht man vom entwicklungsgemäßen, gesunden „primären Narzissmus“. Das Kleine hat noch kein Einfühlungsvermögen und kann sich noch nicht in eine andere Position hineinversetzen. Daher ist es auch noch nicht sozial. Es kann also noch kein echtes soziales Miteinander geben. Gleichaltrige erleben sich daher tendenziell als Konkurrenten.
Statt Mitgefühl mit anderen wird es selbst angesteckt von deren Gefühlen und statt echtem zusammen spielen gibt es meist paralleles spielen. 
Das tröstende, hilfreiche Verhalten, das manchmal bei Kleinkindern beobachtet werden kann, wird häufig bereits als soziales Verhalten interpretiert. Es ist jedoch noch kein reifes soziales Verhalten, das auf Empathie oder Einfühlung in eine andere Person beruht, sondern noch eine völlig unbewusste Handlung, die auf unwillkürlicher Nachahmung und über die Gefühlsansteckung (Bischoff-Köhler 1989) bzw. die Spiegelneuronen (Bauer 2006) ab und zu funktioniert. 

Wenn sich die Kinder weitgehend selbst überlassen sind, wie in der Krippe, gilt bei Konflikten untereinander das Recht des Stärkeren, er setzt sich durch und nimmt z.B. dem andern das Spielzeug weg, dasjenige muss sich notgedrungen damit abfinden und lernt dabei Unterwerfung.
Nennen wir das „soziales Lernen“?
Manchmal wird von Eltern berichtet: „mein Kind freut sich so auf die Kinder in der Krippe, es geht da gerne hin!“
Kinder arrangieren sich, sie passen sich an und machen das Beste draus!
Ihre Orientierung wendet sich notgedrungen von den Erwachsenen ab und den Kindern zu, denn sie sind angewiesen auf Nähe.
Dadurch entsteht eine verstärkte Abhängigkeit der Kinder untereinander, was Auswirkungen hat für die weitere soziale Entwicklung. Im Kindergarten-, Schul- und Jugendalter leiden sie dann umso mehr unter den wechselhaften, unreifen Beziehungen unter den Gleichaltrigen.
Außerdem agieren sie das unbewusst an anderen aus, was ihnen selbst widerfahren ist. Aufgrund von eigenen Trennungserfahrungen und  Mangel an Mitgefühl grenzen sie sich verstärkt gegenseitig aus.
Das um sich greifende Mobbing kann auch in diesem Zusammenhang gesehen werden.

Die Basis von späterer „Sozialkompetenz“ sind dagegen in den ersten drei Lebensjahren Beziehungen  zu wenigen vertrauten, zuverlässigen und einfühlsamen, reifen Bindungspersonen (siehe auch: Kindliche Grund- und Bindungsbedürfnisse). So  können die Kleinen anfangs am besten mit ihren Eltern, als den zumeist vertrautesten Menschen sich selbst kennen lernen, indem sie sich verstanden und angenommen fühlen. So können sie ein gesundes Selbstwertgefühl aufbauen. Alleingelassen sind ihren Emotionen und Bedürfnissen noch hilflos ausgeliefert, was emotionalen Stress bedeutet. Mit reifen, zugewandten Erwachsenen  können sie Trost und emotionale Stabilisierung erfahren. Mit ihnen können sie zunehmend lernen, wie angemessen mit Gefühlen umgegangen werden kann. Denn der Umgang mit ihnen selbst wird zum Modell dafür, wie sie später mit anderen umgehen werden.
So können die Grundlagen eines guten sozialen Umgangs gelernt werden.
Von Gleichaltrigen können sie das nicht lernen.

Tendenziell fühlen sich die Kleinen gestresst durch Gleichaltrige. Darauf sollte man möglichst Rücksicht nehmen.
Angemessene Spielsituationen können teilweise kleine Eltern-Kind-Gruppen oder Treffen im privaten Rahmen sein.  Das sind ganz andere Situationen als die übliche, wechselhafte Krippen-Gruppensituation, wo die Kinder über einige Stunden oder gar den ganzen Tag mit einer Fülle von Eindrücken und Begegnungen konfrontiert und dabei weitgehend auf sich selbst gestellt sind (siehe auch:  zur Situation in Krippen). Für die Verarbeitung der vielen Eindrücke, die Regulation ihrer Emotionen und die Selbstbehauptung in der Gruppe sind sie noch nicht reif.

Wie sich in vielen zuverlässigen Untersuchungen und Forschungen darstellt, entstehen durch die Krippenbetreuung daher häufig Stress, Überforderung und tendenziell langfristige Schwächen im Sozialverhalten neben anderen Störungen, wie z.B. emotionalen und Konzentrations- Störungen.

Erst mit ca. 3-4 Jahren beginnen Kinder über Einfühlungsvermögen und Kooperationsbereitschaft zu verfügen, vorausgesetzt, dass entsprechend mit ihnen umgegangen wurde. In diesem Alter kommen sie ins sogenannte „Spielalter“ und eigenständige Beziehungen zu anderen Kindern sind angemessen und werden immer wichtiger.

Wenn sich die Kleinkinder schon früh und verstärkt an Kindern orientieren – aus Mangel an verlässlich verfügbaren erwachsenen Bindungspersonen – kann die natürliche Orientierung am Erwachsenen verloren gehen.
Das hat u.a. auch Folgen für die Erziehung zu Hause (sie hören nicht auf die Eltern) und später in der Schule (Respektlosigkeit gegenüber den Lehrern).
Denn Erziehung bedarf der Beziehung.
(Jesper Juul: „Beziehung statt Erziehung.“)
(Literatur: „Unsere Kinder brauchen uns“ von Gordon Neufeld)
In der Peergroup herrscht dann das Recht des Stärkeren mit Mangel an sozialer Kultur wie Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Konfliktfähigkeit und Kooperationsbereitschaft, was eben nur von reifen Erwachsenen gelernt werden kann, gerade in den äußerst prägenden ersten Lebensjahren.

Literatur:

Bauer, J. (2006): Warum ich fühle, was du fühlst. München: Heyne-Verlag

Bischoff-Köhler, D. (1989): Spiegelbild und Empathie. Die Anfänge der sozialen Kognition. Bern: Huber.

Butzmann, E 82020): Empathie und soziales Verstehen in den ersten Lebensjahren, 2020:
https://www.erzieherin.de/empathie-und-soziales-verstehen-in-den-ersten-lebensjahren.html)

Henzinger, U. (2017: Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit.  Gießen:

Neufeld, G; Mate (2015), G.: Unsere Kinder brauchen uns, Genius-Verlag, 3. Auflage

Strüber,Nicole (2016): Die erste Bindung. Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen. Klett-Cotta, Stuttgart 2016 Brandes &Apsel-Verlag Psychosozial-Verlag. 

Margot Sunderland 2017): Die Neue Elternschule ((Kinder verstehen und erziehen vor dem Hintergrund der Neurobiologie), Dorling Kindersley-Verlag, München

Bachmann, H. und E. (2019): Familienleben – wie Kinder und Eltern gemeinsam wachsen, ein Grundlagenbuch, Kösel-Verlag