Betriebskitas – eine Alternative?

Erfahrungen in einer Betriebskita für unter 3-Jährige in Baden-Württemberg

Bericht von Angelika

Das Leben führte mich nach dem Studium in eine Betriebskinderkrippe in Stuttgart, die einen guten Ruf genoss. Sie gehörte zu einem der reichsten Unternehmen Deutschlands mit internationaler Bedeutung. Die Einrichtung war groß: 11 Gruppen mit je 10 Kindern. Auch wenn ich mir anfangs eine andere Arbeitsstelle erhofft hatte, wollte ich offen sein für neue Erfahrungen. Mit all meinem Wissen über entwicklungsgerechte Pädagogik konnte ich dann aber kaum verarbeiten, was ich täglich erlebte:

Aufgenommen wurden Kinder ab der 9. Lebenswoche. Trotzdem gab es keine kuscheligen, geschützten Eckchen, die diesen Kleinsten der Kleinen wenigstens ein bisschen Geborgenheit hätten vermitteln können. Es war unruhig und laut. Die Räume waren groß und sehr modern eingerichtet; es wirkte auf mich grell und unpersönlich. Eine kalte, lieblose, traurige Atmosphäre. Bei vielen Kindern fiel mir der leere, seelenkose Blick auf. Da verspürte ich den dringenden Wunsch, wenigstens ein paar Kindern dort Liebe und Wärme zu schenken. So nahm ich die Stelle an. 

Die Öffnungszeiten waren von 8 bis 18 Uhr und wurden von vielen Eltern auch tatsächlich genutzt. Die meisten Kinder kamen ab dem 5. oder 6. Monat und waren den ganzen Tag und die ganze Woche da. Das Personal wechselte häufig – zum Leidwesen der Kinder. Immer wieder verloren die Kleinen damit ihre Bezugspersonen, die ja für sie so wichtig waren, da sie schon die Eltern und ihr zu Hause verlassen mussten. 

Wir arbeiteten oft unterbesetzt mit mehr als 5 ja, bis zu 10 Babys und Kleinkindern auf eine Fachkraft! Das kam z.B. vor, wenn eine Kollegin Pause machte, sich speziell um ein Kind kümmern musste, Büroarbeiten zu erledigen hatte, erkrankte oder in einer anderen unterbesetzten Gruppe aushelfen musste. Weitere nicht im Personalschlüssel eingerechneten Ausfälle kamen durch Urlaube, Fortbildungen, Elterngespräche, Teambesprechungen, Organisation, Vor- und Nachbereitungen hinzu. Außerdem mussten wir ständig einen Berg von Dokumentationen, Entwicklungsberichten, Beobachtungsbögen und Portfolios ausfüllen. Das sollte die Qualität der Einrichtung erhöhen, führte aber letztlich dazu, dass die ErzieherInnen noch weniger Zeit für die Kinder hatten und noch gestresster waren.

Mir wurde ganz schnell klar: Wie sehr ich mich auch anstrengte, es war völlig unmöglich, den Kindern neben der unbedingt notwendigen körperlichen Versorgung auch nur einigermaßen gerecht zu werden! Dazu hätten wir mindestens doppelt so viel Personal gebraucht. Und vor allen Dingen: einfühlsames, liebevolles Personal, das um die Bedürfnisse kleiner Kinder weiß und ihre Signale verstehen kann. Zudem waren meine KollegInnen meist gestresst und angespannt. Das wirkte sich natürlich auch auf ihren Umgang mit den Kindern aus. Es wurde viel geschimpft und schon früh ein hohes Maß an Selbstständigkeit von den Kleinen erwartet bzw. eingefordert. Selbstständigkeit wurde immer hervorgehoben und gelobt, wenn Kinder sich z.B. schon früh selbst anziehen konnten, selbstständig essen konnten und insgesamt nicht so viel Zuwendung einforderten. Im Umkehrschluss wurden die Kinder bestraft, welche dem Druck nicht standhalten konnten, die „langsamer“ waren, oder als „verhaltensauffällig“ galten. Das Weinen und Schreien der Kinder wurde immer wieder als „Bockigkeit“ und „Ungezogenheit“ interpretiert, als etwas, das man ihnen durch Sanktionen und Bestrafung abgewöhnen musste. 
Es gab täglich Situationen, in denen das Verhalten der Kinder ohne Einfühlungsvermögen und ohne seelische Kenntnisse interpretiert wurde.  So gab es z.B. auch Kinder, die andere gebissen oder geschlagen haben, ein deutliches Zeichen, wie sehr sie mit dieser externen, lauten und lieblosen Betreuungssituation überfordert waren. Doch sie wurden beschimpft und bestraft. 

Auch bei späteren Hospitationen in verschiedenen anderen Krippen und bei einer weiteren Arbeitsstelle musste ich immer wieder den Mangel an Verständnis für die Bedürfnisse und seelischen Nöte der Kinder feststellen.
 
Wenn sich alle Pädagogischen Fachkräfte darüber im Klaren wären, was all dies für die Kinder und ihre weitere Entwicklung bedeutet, dann würde wahrscheinlich keine mehr in solch einer Einrichtung arbeiten können. Viele junge, motivierte Kolleginnen verließen entweder resigniert die Einrichtung oder aber passten sich den Umständen an. Um sich selbst zu schützen, machten sich unempfindlich und unterdrückten ihre wahren Gefühle, weil sie die unhaltbare Situation für die Kinder und für sich selbst sonst nicht ertragen hätten. 

Im Nachhinein frage ich mich, wie ich das aushalten konnte. Sicher auch deshalb, weil ich eine sehr liebe Kollegin in der Gruppe hatte, mit der ich gut arbeiten konnte und die auch die entbehrungsreiche Situation für die Kinder verstand. Zusammen haben wir versucht, es trotz der Umstände irgendwie so gut wie möglich zu machen. Aber wie oft habe ich darunter gelitten, den Kindern nicht die Liebe und Zuwendung geben zu können, die sie so nötig gebraucht hätten und wie sehr habe ich vor allem bei den Eingewöhnungen mitgelitten! Wenn ich sehen musste, wie die kleinen Kinder gezwungen wurden, ihre liebste Bezugsperson, meist die Mutter, zu verlassen, obwohl sie sich aufs sehnlichste nichts mehr auf der Welt wünschten, als bei ihr zu sein. Wie sie weinten, wie sie litten, wie sie uns doch mit all ihren Möglichkeiten signalisierten, dass sie nicht hier in der Krippe sein wollten sondern zu Hause bei der Mama. Bei den Eltern. Im vertrauten Umfeld. Nicht in dieser fremden, lauten, großräumigen Umgebung, wo sie sich ganz verloren und verlassen fühlen mussten. 

Immer wieder sollten wir den Eltern sagen, dass es ganz normal sei, wenn die Kinder in den ersten Wochen nach der Eingewöhnung nachts schlecht schlafen, wenn sie anhänglich, weinerlich, vielleicht sogar aggressiv oder verstört und unausgeglichen sind – obwohl das doch alles eindeutige Signale dafür sind, dass die Kinder enorm leiden! 
Oft habe ich den Eindruck gehabt, dass viele Mütter eigentlich ganz deutlich spürten, dass da etwas nicht stimmte. Aber sie ließen sich einreden (und reden es sich gern selbst ein), dass das alles dazu gehöre und ein ganz normaler Ablösungsprozess sei. Es wird ihnen auch überall suggeriert, dass es ja das normalste auf der Welt sei, das Baby oder Kleinkind abzugeben, „endlich wieder Zeit für sich selbst zu haben“. Wieder arbeiten zu gehen. Alle machen es doch so….

Irgendwann müssen sich die Kleinen dann mit der Situation abfinden. Sie resignieren und wehren sich nicht mehr. Dann wird gesagt: jetzt hat sich das Kind eingewöhnt. Jetzt geht es richtig gern zur Krippe! 
Als Beispiel möchte ich von einem 5 Monate alten Mädchens berichten, das ich eingewöhnen sollte. Sie schrie während der Trennungszeiten ununterbrochen und ihr ganzer Körper verkrampfte sich. Ich sprach mehrmals mit der Einrichtungsleitung, dass wir die Eingewöhnung abbrechen müssten, um dem Kind nicht zu schaden. Aber sie sagte mir jedes Mal, dass wir es noch mal für eine Weile mit verkürzten Trennungszeiten versuchen sollten. Letztlich dauerte es vier Wochen bis das Baby sein Verhalten von einem Tag auf den anderen änderte. Urplötzlich war es still und hörte auf zu schreien. Nun galt es als „eingewöhnt“. 
Ich bin ich mir im Nachhinein sicher, dass es, wie viele andere Kinder, resigniert hat, weil es mit seinen Hilferufen nichts erreichen konnte: es musste sich mit der Situation abfinden, um zu überleben. Wenn die ErzieherInnen, die verstanden haben was da geschieht, den Eltern die Wahrheit gesagt hätten, dann wären sie in Konflikt mit der Einrichtungsleitung geraten und es wäre ihnen bald gekündigt worden.

Es kam oft vor, dass Kinder krank in die Einrichtung gebracht wurden. Sie bekamen dann morgens von den Eltern ein fiebersenkendes Mittel verabreicht, damit sie fieberfrei waren. In manchen Fällen durften wir die Kinder sogar nicht wieder nach Hause schicken, obwohl sie offensichtlich krank waren. Dann handelte es sich meist um ranghohe MitarbeiterInnen, die um keinen Preis im Betrieb fehlen wollten oder durften. Sie standen unter einem enormen Druck von Seiten des Arbeitgebers. Sie wurden dann von der Einrichtungsleitung „unterstützt“, indem ihnen zugestanden wurde, ihre Kinder auch „mit Erkältungen“ zu bringen.

Wir pädagogischen Fachkräfte waren dazu bestimmt, den Mitarbeitern des Konzerns, den Rücken frei zu halten, ihnen zu suggerieren es sei das Beste für ihre Kinder, damit sie weiterhin leistungsfähig und flexibel einsetzbar blieben. So wurden wir pädagogischen Fachkräfte zu Dienstleistern des Wirtschaftsbetriebes. Im Vordergrund stand die verfügbare Arbeitskraft: das „Wohl“ der Wirtschaft, nicht das Wohl des Kindes! 
Gleichzeitig wurden die Kinder als Nachwuchsgeneration für den Betrieb gesehen. Ein Zitat aus der Werbebroschüre der Kinderkrippe des damaligen Vorstandsvorsitzenden bringt alles auf den Punkt: “Kinder sind unser wichtigster nachwachsender Rohstoff“. Was aber bedeutet dies für die Kinder, ihre Entwicklung und für unsere Gesellschaft?!

Meine Erfahrungen in dieser Krippe sind kein Einzel- oder Extremfall. Ich habe nach zwei Jahren die Arbeitsstelle gewechselt und nochmals in einer anderen Einrichtung für Kleinkinder gearbeitet. Auch habe ich in vielen Einrichtungen hospitiert. Alle Erzieherinnen in meinem Freundeskreis, die auch in Krippen gearbeitet haben oder noch arbeiten, machen und machten ganz ähnliche Erfahrungen, in kirchlichen, privaten oder städtischen Einrichtungen.

Seit etwas über einem Jahr erst beschäftige ich mich nun intensiv mit den Auswirkungen der Krippenbetreuung auf Kleinkinder und Säuglinge. Was vorher bei mir intuitives Empfinden und kritisches Beobachten war, wird nun bestätigt durch die Entwicklungspsychologie und fundierte wissenschaftliche Studien, welche die schädigenden Auswirkungen der U3 Betreuung in Krippen oder Tagespflege untersuchen und belegen. Es gibt inzwischen ausreichend wissenschaftlich fundierte Literatur zu diesem Thema. Immer mehr Kinder- und Jugendlichen-Psychologen erleben in ihren Praxen durch frühe Fremdbetreuung traumatisierte Kinder und Jugendliche. Die Auswirkungen scheinen sich nicht unbedingt gleich zu zeigen, sondern oftmals auch erst im Schulalter und mit Beginn der Pubertät. Das macht es den Eltern schwer, Zusammenhänge mit der Krippenbetreuung zu sehen.

Ich möchte allen Eltern raten, sich wirklich umfassend zu informieren. Sie sollten es sich sehr gut überlegen, ob sie ihr Kind in den ersten drei Jahren wirklich unbedingt in eine Krippe geben müssen. Oder ob es vielleicht doch auch Alternativen gibt, z.B. Großeltern, Verwandtschaft, Nanny. Und ob es nicht möglich ist, die eigenen materiellen Wünsche und Bedürfnisse in den ersten so elementar wichtigen Lebensjahren auf ein notwendiges Maß zu reduzieren. Falls es dennoch sein muss, möchte ich den Eltern ans Herz legen, ihr Kind erst so spät wie möglich und nur so lange in die Einrichtung zu bringen, wie es wirklich unbedingt nötig ist. Das heißt, es so früh wie möglich abzuholen und nicht die ganze Woche fremdbetreuen zu lassen. Damit wäre dem Kind geholfen, die Situation und die Trennung besser zu verkraften. 

Inzwischen bin ich Mutter von zwei Kindern. Als Mutter und Erzieherin möchte ich den Eltern abschließend noch folgendes mit auf den Weg geben: 
Die ersten Lebensjahre sind für ihr Kind enorm prägend. Sie sind jedoch nicht nur für seine Entwicklung grundlegend wichtig, sondern auch die Eltern selbst können innerlich mit und an ihrem Kind/ ihren Kindern, an den neuen Erfahrungen und vielfältigen Herausforderungen persönlich wachsen. Außerdem wird die Beziehung zwischen den Eltern und ihren Kindern auch für die späteren Jahre maßgeblich geprägt. Es kann eine der wertvollsten Zeiten, auch im Leben der Eltern werden, wo sie ganz neu erfahren können, was „Leben“ bedeutet. 
Nehmen Sie sich diese Zeit! Sie werden noch lange genug Ihrem Beruf nachgehen können. Aber diese ersten Lebensjahre sind einmalig, sie sind nicht nachzuholen und durch nichts zu ersetzten. Wenn Sie später zurückschauen, werden Sie dankbar sein, wenn Sie sich nicht durch gesellschaftliche Trends und Zwänge von Ihrer Intuition haben abhalten lassen.