Stressbelastung in der Krippe

Andreas Ebenhöh beschreibt hier eindrücklich die Empfindungen und den Stress eines Kleinkindes im ganz normalen Krippenalltag. 
Ebenhöh ist Vater von 2 Kindern und hat als langjähriger Erzieher und Kita-Leiter einen großen Erfahrungsschatz. Er leitet seit einigen Jahren die Heldentaten-Akademie, welche in Weiterbildungen und persönlichen, zeitnahen  Beratungen ErzieherInnen und Kita-Leitungen Unterstützung und Fachwissen in vielerlei Hinsicht bietet.
Er ermutigt Fachkräfte dazu, sich über die Missstände in Kitas zu äußern, die das Wohlergehen von den ErzieherInnen sowie von den Kindern gefährden und sich kompetent und selbstbewusst für Rahmenbedingungen einzusetzen, die beiden Seiten besser gerecht werden können.
Dass er sich auch eingehend mit der kindlichen Psychologie und mit Neurobiologie beschäftigt hat, beweist er im folgenden Text, wo es um die Stressbelastung eines Kleinkindes in der Krippe geht:

Meine Krippe ist ein Traum
Cortisol* für Fortgeschrittene

Ich öffne die Augen… Mein Name ist Theo. Ich bin 1 Jahr alt!
Es ist 6:00 Uhr. Immer wenn Papa mich um diese Uhrzeit weckt, schlafe ich noch tief und fest. Mein Gehirn sortiert eigentlich noch die Eindrücke des vergangenen Tages, bildet neue Bereiche und entwickelt wichtige neuronale Strukturen.

Um 07:30 Uhr bringt mich Papa in die Krippe. Es ist laut, einige Kinder weinen und ich kann es Annika, meiner Erzieherin, ansehen, …es läuft mal wieder nicht rund. Sie ist alleine mit den Kindern und die Atmosphäre im Raum ist angespannt. Papa verabschiedet sich nur kurz von mir. Er vermutet wohl, dass ein Küsschen und „Hab dich lieb“ ausreichen, um seine Verbundenheit mit mir auszudrücken. In meinem Körper beginnt ein leiser Widerstand. Ich spüre die aufkeimende Unsicherheit und diese übermächtigen Gefühle, für die ich weder eine Erklärung, noch eine Verarbeitungsstrategie besitze…, denn ich bin erst 1 Jahr alt! Jedwede Unsicherheit wird von meinem Gehirn als existenzielle Gefahr eingestuft und führt bei mir zu Flucht, Kampf oder Resignation.

Annika nimmt mich auf den Arm. Ich kann ihr Herz spüren und bin froh um die körperliche Zuneigung. Doch plötzlich schreit Jonas laut auf, während Nico meiner Freundin Marta in den Arm beißt. Familie Müller steht an der Gruppen-Tür und möchte jetzt SOFORT ein klärendes Gespräch. Das Telefon klingelt und aus der Küche dringt ein besorgniserregender Geruch. Annika setzt mich auf den Boden und kümmert sich um Martas Wunde. Jonas schreit immer noch und Familie Müller ist empört.

Ich sitze alleine auf dem Boden. Dieser Ort wirkt übermächtig groß und ich suche nach Schutz. Es ist laut, von überall her dringen verwirrende Geräusche und unbekannte Gerüche. Mein Gehirn erkennt meine Notsituation und beginnt mit den üblichen Vorkehrungen. Da ich mit einem Jahr noch keine Verarbeitungsstrategien für Stress besitze, wechselt mein Köper in den einzig möglich Zustand: Überleben!
Ich fange an zu weinen und versuche Annika entgegen zu krabbeln. Annika hat jedoch keine Zeit und die Praktikantin Lea weiß die Situation nicht wirklich einzuschätzen. Sie nimmt mich hoch und setzt mich in die Bücherecke zu Nico. Nico krabbelt auf mich zu und beißt mir in den Arm.

Mein Köper gerät in Panik und überschwemmt mich mit Cortisol, einem Stresshormon. Es schwächt das Immunsystems, führt zu vermehrter Infektionsanfälligkeit, einer Beeinträchtigung des Gedächtnisses und der Emotionalität. Als Langzeitfolgen können emotionale Dysfunktionen, Depressionen, Angst, Essstörungen und Traumata auftreten.
Ich bin hilflos, verängstigt und brauche jetzt sofort Schutz, Geborgenheit, Verbindung. Doch da ist Keiner! KEINER!

Ich weiß…, Annika gibt ihr Bestes und auch die anderen Erzieher bemühen sich darum, uns Tag für Tag zu beschützen, zu trösten, zu bestärken, uns zu helfen und uns in unserer Entwicklung zu begleiten. Doch wie sollen so wenige Erzieher so vielen Kindern gerecht werden? Ich mache meinen Eltern keinen Vorwurf, auch wenn ich mir mehr Zeit mit Ihnen wünsche… Ich suche auch nicht nach Schuldigen… Ich stelle nur die Frage in den Raum, „Wie wichtig ist uns denn eine glückliche und gesunde Kindheit?“

Würden wir nach den derzeitigen Rahmenbedingungen (Personalschlüssel, Qualitäts-Standards, Finanzierung, etc.) unserer Kitas gehen, so wäre schnell klar, dass frühkindliche Bildung und Entwicklung mit Füßen getreten werden.
Die schlechten Rahmenbedingungen in Kitas haben fatale Auswirkungen auf unsere Kinder und vor allem auf die Jüngsten. Es ist in etwa so, als würde man versuchen, einen Eisbären durch die Wüste zu treiben. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses großartige Geschöpf auf Grund der Rahmenbedingungen der Wüste einen bleibenden Schaden davonträgt, ist dramatisch groß.
Ist es wirklich das, was wir wollen? Sollen unsere Kinder für unser Versagen (die unzureichenden finanziellen Mittel, die nachlassende Professionalität und fehlende Verantwortung) den Preis mit ihrer Gesundheit und Lebensfreude zahlen?

Andreas Ebenhöh hält Vorträge, führt Interviews mit Kindheits-Experten und ist auf YouTube vertreten. Mehr zur Heldentaten-Akademie finden Sie unter: www.heldentaten-akademie.de. Auf seine FaceBook-Seite kommen Sie unter: ***#Kitahelden*** Hier ist der obige Text vom 10.02.2020 auch zu finden.

*Cortisol ist ein Stresshormon