Mama! Krippe und Lügen

„Mama!“

„Der beruhigt sich gleich“, reden Eltern sich ein, wenn ihr Kind beim Abgeben in der Kita weint. Ach ja? Und was, wenn die Überlastung der Erzieher jeden Tag zum Albtraum für die Kleinen macht? Raoul Löbbert hat genug vom Selbstbetrug.

Ich bin die Lügen leid, die Selbstverständlichkeit, mit der wir Eltern unsere Kinder morgens in der Kita abgeben und dann so tun, als wäre es okay, wenn die Kleinen weinen, sich festkrallen an Mama oder Papa und uns hinterherschluchzen. Es bricht einem das Herz, sein Kind so zu sehen. Ist schon nicht so schlimm, redet man sich ein, während man zur Arbeit hetzt. Der oder die Kleine wird schon Spaß haben und optimal betreut werden. Sind doch Profis am Werk. In der Regel stimmt das natürlich. Aber machen wir uns ehrlich: In Deutschlands Kitas geht es immer mehr zu wie in Deutschlands Altenheimen. Es fehlt an Personal. Und das Personal, das da ist, würde nach einem Tag mit einer Kleinkindgruppe, in der alle gleichzeitig gewindelt, gefüttert und getröstet werden wollen, sicher selbst mal ganz gern umsorgt und getröstet werden.

„Gute-Kita-Gesetz“ heißt das Paket, das Bundesfamilienministerin Franziska Giffey erst diese Woche zu Ende verhandelt hat. Es regelt, wie der Bund die Kinderbetreuung finanziell unterstützt. Schon der Name bestärkt, was Eltern sich so gerne selbst vorgaukeln: dass alles gut ist in den Kitas.

In Berlin, wo ich mit meiner Frau und meinem 16 Monate alten Sohn wohne, fehlen einer Bertelsmann-Studie zufolge 12.000 Kita-Betreuer. Bundesweit müssten mindestens 120.000 Erzieher neu eingestellt werden, um die pädagogischen Mindeststandards zu erfüllen. Am schlimmsten ist es in Sachsen-Anhalt. Dort ist eine Erzieherin im Durchschnitt für sechs Kinder zuständig. Nur Bremen und Baden-Württemberg schaffen den von Entwicklungspsychologen empfohlenen Schnitt von 1 : 3 bei unter Dreijährigen.

Als Jung-Elternpaar weiß man um den Ernst der Lage. Die meisten verdrängen ihn jedoch und wurschteln sich durch. Hin- und hergerissen zwischen Arbeit, Haushalt, Kinderbetreuung machen wir jeden Tag Kompromisse. Dabei werden wir eigentlich seit dem Schwangerschaftstest darauf konditioniert, keine Kompromisse mehr zu machen, nichts zu verdrängen, sondern alles zu wissen und im Blick zu haben, wenn es ums eigene Kind geht. Genau das wird Eltern heute von Freunden, Großeltern, Kinderärzten, Ratgebern und Blogs permanent eingeredet. Als Eltern meint man diese Erwartungen erfüllen zu müssen, vor allem, wenn es das erste Kind ist und man selbst noch unsicher.

Deshalb drucken wir aus dem Internet Listen aus mit Lebensmitteln, die in der Schwangerschaft verboten sind, und halten als Paar gemeinsam Diät. Zusammen gehen wir in den Kreißsaal und tragen unsere Babys nach der Geburt vorm Bauch durch die Welt, damit sie unseren Herzschlag hören. Wir stellen uns Fragen, die unseren eigenen Eltern nie gekommen wären: Sind wir schnell genug windelfrei? Was ist besser: Magic-Cup oder Trinklernbecher? Wer geht beim Babyschwimmen mit ins Miniatur-Schwimmbecken, der Vater (die Regel), die Mutter (die Ausnahme) oder beide zusammen (streng verboten)? Kurz: Man will alles richtig machen und wird fast verrückt dabei.

Nur wenn das Kind in die Kita kommt, hört das Fragen plötzlich auf. Da möchte man nichts hören von Personalmangel und davon, dass die Erzieher, denen man sein Kind anvertraut, womöglich überlastet, gefrustet oder inkompetent sind. Was könnte man schon dagegen tun? Lieber sagt man sich: Ausgerechnet die eigene Kita mit dem albernen Tiernamen (sie haben fast alle alberne Tiernamen) wird bestimmt die große Ausnahme von der Regel sein und zu den zehn Prozent gehören, die einer Studie des Deutschen Kitaleitungskongresses zufolge keine „erhebliche Personalunterdeckung“ verschleiern müssen.

Aus Selbstschutz ignorieren wir, dass nichts ideal ist im real existierenden Betreuungssystem. Das funktioniert so lange, bis die Wirklichkeit unsere Illusion erschüttert.

„Das ist halt ein bockiges Kind“

Bei mir und meiner Frau war dieser Zeitpunkt der erste Elternabend. Da behauptete die Kita-Leiterin allen Ernstes, in ihrer Einrichtung gebe es täglich Grund zu lachen und immer genug Zeit, um auf jedes Kind individuell einzugehen. Der Betreuungsschlüssel sei exzellent, die Stimmung sowieso. Nichts davon war wahr. In unserer Gruppe wurden 15 Kinder unter drei Jahren von zwei ausgebildeten Erzieherinnen betreut. Laut dem Berliner Eingewöhnungsmodell sollen Kinder über Wochen langsam daran gewöhnt werden, ohne Mama und Papa in der Kita bleiben zu können. In unserer Kita jedoch schmolz die Eingewöhnungsphase auf wenige Tage zusammen. Stetig mussten neue Kinder eingewöhnt werden. Die reinste Akkord-Betreuung.

Das Resultat: Verängstigte Kleinkinder stolperten auf der Suche nach ihren Eltern weinend und „Mama!“ rufend durch den Raum. Die zwei Erzieherinnen hatten gar nicht genug Arme, um jedes Kind, das Trost brauchte, hochzunehmen. Wir haben nie ein Kind lachen oder spielen sehen in unserer Kita. Manche brüllten permanent, andere saßen apathisch in der Ecke. Unser Sohn schrie. Holten wir ihn ab, hörten wir ihn bereits durch die geschlossene Tür. Manchmal saßen wir dort eine Weile und widerstanden dem Drang, reinzustürmen. Wir wollten hören, ob er getröstet wird. Fehlanzeige. Als wir die Erzieher darauf ansprachen, versuchten sie, uns weiszumachen, unser Sohn habe den ganzen Tag gespielt. Wie das sein könne, wenn er jetzt so weine, wollten wir wissen. Antwort: „Das ist halt ein bockiges Kind.“

Wir holten uns Rat bei Freunden. Viele hatten Ähnliches oder Schlimmeres erlebt, meinten aber: Das ist halt so. Da müsse der Kleine durch. Überhaupt könne man heutzutage ja schon froh sein, einen Kita-Platz zu haben. Andere Eltern bestritten pauschal, dass mit Kindern so umgegangen werde. Wir müssten uns verhört haben.

Ähnlich ignorant verhielten sich die anderen Mütter und Väter unserer Gruppe beim ersten Elternabend: Als sich die Kita-Leiterin inbrünstig selbst lobte, fragte kein Einziger nach, wie denn so wenige Erzieher so viele Kinder überhaupt adäquat betreuen könnten. Im Gegenteil, es gab sogar Eltern, die überboten sich in Realitätsverweigerung und dankten den Erzieherinnen für den vorbildlichen Einsatz. Bis heute frage ich mich, was sie mit der Schleimerei bezweckten. Erhofften sie sich Vorzugsbehandlung? Möglich. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie wirklich dankbar waren. Die Kita-Leiterin machte es ihnen leicht, an den schönen Schein zu glauben.

Am Ende verabschiedeten wir uns still. Eines Sonntags steckten wir die Kündigung in den Briefkasten. Da standen wir also, befreit und zugleich panisch: Was nun?

Ich denke an meinen Sohn. Er ist jetzt bei Brigitte. Jeden Freitag geht Brigitte mit ihren vier Tageskindern turnen. Nimmt sie unseren Sohn auf den Arm, wenn er untröstlich ist? Bekommt er genug zu trinken, zu essen? Wir hoffen es. Unser Sohn jedenfalls lacht mehr, seit er Brigitte kennt. Geben wir ihn ab, umarmt er sie. Dann flitzt er los, um ihre Wohnung zu erforschen oder das Obst zu futtern, das sie für die Kinder geschnitten hat. Vielleicht hatten wir Glück. Besser jedoch wäre, Glück spielte keine Rolle.