Auf den Anfang kommt es an

Was macht die frühe Krippenbetreuung mit unseren Babys und vielen Kleinkindern?

Festvortrag zum 30jährigen Jubiläum des Kinderschutzbundes im LK Schaumburg am 21.09.2023 in Stadthagen von Dr. Erika Butzmann, Wildeshausen

Der Anfang, auf den es ankommt, wird in unserer derzeitigen Gesellschaft ausschließlich in den Krippen verortet. Die fachöffentliche Diskussion dreht sich bei diesem Thema nur darum, möglichst viele Kinder schon früh in der Krippe zu betreuen, weil sie dort gebildet würden. Doch der Anfang, auf den es ankommt, liegt keineswegs in der angeblichen Bildung der Babys und Kleinkinder in der Krippe, sondern in der sicheren  Bindung an die Eltern. Dieser Bindungsprozess zieht sich über mindestens zwei Jahre hin und ist die Basis für die Ausbildung aller emotionalen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten beim Kind – unter der Voraussetzung, dass einer der fürsorglichen Eltern meistens zur Verfügung steht. Nur dann, wenn die Eltern zu dieser Fürsorge nicht in der Lage sind, kann der Anfang in einer qualitativ guten Krippe liegen. Das zeigen zahlreiche Studien.

Warum Bildung in der Krippe i.d.R. nicht stattfindet, werde ich zuerst erklären und dann erläutern, was die frühe Krippenbetreuung für Babys und viele Kleinkinder bedeutet.

Bildung findet in der Krippe nicht statt, weil biologische Antriebe für die Anfänge der kognitive Bildung in den ersten zwei bis drei Jahren sorgen, wenn das Kind diese unter dem Schutz der primären Bindungsperson ausleben kann. In der Fremdbetreuung kommen die Antriebe aus mehreren Gründen nur eingeschränkt oder gar nicht zum Einsatz.

Zu den biologischen Bildungs-Antrieben gehören die Erkundungsbereitschaft, das Spielen, die Bereitschaft zur Nachahmung, die Fokussierung auf Neues (Neugierde) und das schöpferische Erfinden. Das kennen alle, die kleine Kinder haben. Diese sind viel in Bewegung, manipulieren alle erreichbaren Dinge, ahmen die anderen ständig nach und spielen immer dann, wenn es ihnen gut geht. Diese Antriebe sind nur wirksam, wenn das Kind sich sicher und geborgen fühlt und wenn diese impulsgesteuerten Aktivitäten ungestört möglich sind im selbstgestalteten Spiel. Dies wird in der Gruppenbetreuung immer wieder unterbrochen durch die hohe Ablenkbarkeit und die Reizoffenheit bei kleinen Kindern, d.h. jedes Geräusch, jede Ansprache, jede tollpatschige Berührung halten das Kind ab von dem, was seine entwicklungsfördernden Antriebe gerade mit ihm machen.

Wird ein Kind zusätzlich von den biologisch gesteuerten Trennungs- und Verlassenheitsängste geplagt, sind diese Antriebe völlig unwirksam. Denn unter Angst werden nur Überlebensmechanismen gelernt, aber nichts, was die Entwicklung voran bringt. Bildungsprogramme stören den natürlichen Entwicklungsprozess zusätzlich und haben keine Wirkung. Der bekannte Neurobiologe Prof. Gerhardt Roth von der Uni Bremen sagte dazu: eine gezielte kognitive Förderung in den ersten zwei bis drei Jahren erweist sich als nutzlos oder gar schädlich (Roth 2011, S. 169). Das Gleiche sagt auch die bekannte Lernforscherin Elsbeth Stern, die das so formuliert: „Die Entwicklung des Gehirns vollzieht sich teilweise ohne Reize von außen und ist von so universeller Natur, dass sie in einer Jurte in der Mongolei, einer Hütte in Afrika, einem Plattenbau in Berlin oder einer Villa in Berverly Hills in gleicher Weise vonstatten geht.“ (Stern 2004, S. 532). Dazu sind nur liebevolle, fürsorgliche und anwesende Eltern nötig und störungsfreie Räume.

Die sozial-emotionale Bildung findet in den Krippen ebenfalls nicht statt. Denn das vermeintlich soziale Verhalten der unter Zweijährigen in der Krippe wird gesteuert durch die biologisch angelegte Gefühlsansteckung. 

Für die soziale Entwicklung haben wir Menschenkinder die Gefühlsansteckung (Bischof-Köhler 1989 und 2011), die durch Spiegelneuronen und Oxytocin angetrieben wird, deren Ausbildung jedoch auf die enge Eltern-Kind-Beziehung in den ersten zwei bis drei Jahren angewiesen ist. In der Gruppenbetreuung bewirkt die Gefühlsansteckung, dass die einjährigen Kinder automatisch andere trösten. Sie spüren nur die negativen Gefühle des anderen und merken beim impulsmäßigen Trösten, dass diese schlechten Gefühle verschwinden. Deshalb trösten sie ein weinendes Kind weiterhin, um das empfundene negative Gefühl wieder los zu werden. Das sind unbewusste Handlungen, weil das Selbstbewusstsein noch nicht ausgebildet ist, d.h. sie können noch nicht überlegen, ob sie trösten oder helfen wollen. Deshalb hat dieses Verhalten keinen Lerneffekt für später, denn es sind noch keine Erinnerungen möglich. Erst mit 2 Jahren wird dem Kind bewusst, dass die empfundenen Gefühle vom anderen kommen und nicht die eigenen sind (Bischof-Köhler 1989). Dann trösten und helfen viele nicht mehr. Es sind die, die keine so starke Gefühlsansteckung empfinden; denn das Ausmaß ist angeboren. Die empfindsamen und eher ängstlichen Kinder, bei denen die Gefühlsansteckung besonders stark ist, helfen weiterhin und zwar ständig. Dies stresst diese, schon sehr belasteten Kinder noch zusätzlich; denn es sind noch keine reflektierten Handlungen, sondern weitgehend Impulsverhalten, das kaum gesteuert werden kann. Die Gruppenbetreuung hat deshalb vor dem dritten Geburtstag keine Auswirkungen auf das spätere soziale Lernen. Das wird bestätigt von Krippen-Erzieherinnen und Tagespflegepersonen, die frühbetreute Dreijährige als auffallend unsozial erleben.

Was macht die frühe Krippenbetreuung mit unseren Babys und vielen Kleinkindern?

Wenn Kinder bereits zu Beginn des ersten Lebensjahrs fremdbetreut werden, kann sich keine sichere Bindung an die Eltern entwickeln. Dieser Bindungsprozess zieht sich über zwei Jahre hin und ist existenziell auf die primäre Bindungsperson, hauptsächlich die Mutter, angewiesen. Und zwar auf deren fürsorgliche Anwesenheit. Der Bindungs-Prozess ist keineswegs mit einem Jahr abgeschlossen, wie das behauptet wird, weil man Bindungsmuster in Laborsituationen feststellen kann. Babys können sich noch nicht gegen die erzwungenen Trennungen wehren, weil sie noch kein Bewusstsein von sich selbst haben. Sie passen sich notgedrungen an. Krippenerzieherinnen berichten z.B. von 3 und 4 Monate alten Babys, die nur schreien und weinen, die Flasche verweigern und nicht zu beruhigen sind. Die Panik dieser Kinder ist dann zu groß, um den Hunger zu spüren. Sie vermissen zu diesem Zeitpunkt das Gehaltenwerden durch die Mutter (Winnicott 2023) oder den Vater, das die Vorstufe zu den Bindungsbemühungen des Kindes ist. Das bedeutet, dieses Gefühl des Gehaltenseins aktiviert in der Folge die Bindungsbemühungen des Kindes, die ab sechs Monate sich nach der Mutter richten, da sich auf sie das Einheitsgefühl des Kindes bezieht. Ab dem 6. Lebensmonat binden sich die früh fremdbetreuten Kinder zwangsläufig an die meistens zur Verfügung stehende Betreuungsperson und lehnen die Eltern und andere Betreuungspersonen in der Folge ab. Beim Übergang in den Kindergarten kommt es dann zu traumatischen Beziehungsabbrüchen, denn die weitertragende sichere Bindung an die Eltern fehlt diesen Kindern. Spätere therapeutische Behandlungen sind meistens die Folge.

Babys und Kinder unter zwei Jahren haben noch keine durchgehende Erinnerungsfähigkeit, so dass das Verschwinden der Mutter/des Vaters zu stresserzeugenden Trennungs- und Verlassenheitsängsten führt, die sich in Anklammern, Weinen und Schreien zeigen. Denn die Kleinsten wissen noch nicht, dass die Eltern wiederkommen, auch wenn es dauernd gesagt wird. Sie erkennen die Eltern beim Abholen zwar wieder, aber in der Zwischenzeit erinnern sie sich nicht an sie und das erzeugt diese Ängste. Experten beschreiben die Trennungsangst in der Fremdensituation wie folgt: Flucht oder Kampf sind für das Kind nicht möglich. Es kollabiert emotional und fügt sich oder unterwirft sich und lernt nur eins, seine Angst und das Schutzbedürfnis zu unterdrücken und zu verdrängen. Das sind Überlebensmechanismen. Diese erzeugen aber immer wieder eine seelische Wunde, die zwar verheilt, aber die Narbenbildung ist im Gegensatz zu körperlichen Narben ständiger Sand im Getriebe der Gefühlsentwicklung (Posth 2009)[1]

Die Verhaltensauffälligkeiten entstehen aus der Not der Kinder heraus und sind das Ergebnis einer ständigen Anpassung an Bedingungen, die sie nicht vertragen und gegen die sie sich noch nicht wehren können. Die Selbstständigkeitsentwicklung dieser Kinder wird damit behindert. Diese hat ebenso wie alle anderen wichtigen Fähigkeiten ihren Ursprung in den ersten drei Jahren, vorausgesetzt, den Kindern geht es meistens gut. Die hohen Anpassungsleistungen vom Beginn an setzen sich dann fort durch die Ganztags-Kitas und die Ganztagsgrundschulen. Sie können sich vorstellen, welche Folgen das für die gesamte Gesellschaft hat. An all den anderen Ländern, die die frühe und die Ganztagsbetreuung von Anfang an schon lange betreiben, ist das zu erkennen.

Die ganze pädagogische akademische Welt beschreibt seit Jahren die Vorteile der frühe Krippenbetreuung ohne Unterlass. Dass weder die Kinder noch die Erzieherinnen in diese Wunschvorstellungen hineinpassen, wird nicht wahrgenommen.

Aus den hier geschilderten Problemen ergeben sich drei Forderungen an alle, die über die frühe Krippenbetreuung Entscheidungen treffen:

  • Aufklärung der Eltern, dass die frühe Krippenbetreuung nicht für alle Kinder geeignet ist, sondern für einen großen Teil der Kinder hohe Belastungen bedeutet, die die weitere Entwicklung einschränken. Die unzutreffenden Aussagen zur frühen Bildung müssen unterlassen werden, weil das ein Hauptgrund für Eltern ist, die Krippe für ihre Einjährigen in Anspruch zu nehmen. Dann wären in den Krippen Plätze frei für Notfälle und Kinder aus schwierigen Familien, so dass auch diese Kinder gefördert werden können.
    Eine solche Regelung hätte den größten gesellschaftlichen Nutzen.
  • Da die Kinder zum Teil bereits vor der Geburt in den Krippen angemeldet werden, ohne dass die Eltern wissen, welche Persönlichkeitsstruktur ihr Kind hat, wäre es ein verantwortliches politisches Handeln, wenn der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz abgeschafft würde. Die öffentlichen Empfehlungen sollten für eine halbtägige Krippenbetreuung frühestens ab zwei Jahren gelten, um Risiken für viele der Kinder auszuschließen. Das empfehlen auch die 200 Kindertherapeuten und Kinderärzte, die 2020 mit einem Aufruf die politischen Entscheidungsträger aufforderten, eine Wende in der Frühbetreuung einzuleiten.
  • Für alleinerziehende Mütter, die arbeiten gehen müssen, sollten die Kosten eines Krippenplatzes (1000-1500 €) als finanzielle Unterstützung für die ersten 2 bis 3 Jahre ausgezahlt werden; damit sie zu Hause bleiben können. Denn diese Kinder müssen schon häufig auf den Vater verzichten und durch eine frühe Fremdbetreuung auch noch weitgehend auf die Mutter. Auch die Familien, wo beide arbeiten müssten, um den Lebensunterhalt finanziert zu bekommen, sollten diese Unterstützung erhalten. 

Ich beende diesen Vortrag mit einem kurzen Zitat von Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medical School Hamburg:

„Wir sorgen für einen denkbar schlechten Start unserer Kleinsten ins Leben. Wir übersehen und übergehen die seelischen Bedürfnisse unserer Kinder“.[2]

Literatur:

Bischof-Köhler, Doris (1989): Spiegelbild und Empathie. Die Anfänge der sozialen Kognition. Huber-Verlag, Bern

Bischof-Köhler, Doris (2011): Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart.

Heidler, Maria-Dorothea,  (2013): Die Rolle des Kleinhirns für Sprechen, Sprache, Kognition und Affekt. In Logos, Fachzeitschrift für akademische Sprachtherapie und Logopädie, S. 197 – 204.

Roth, Gerhard, (2011): Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Klett-Cotta, Stuttgart.

Stern, Elsbeth (2004): Wie viel Hirn braucht die Schule? In: Zeitschrift für Pädagogik, 4, S. 531-538).

Winnicott, Donald W. (2023): Babys und ihre Mütter. Neuauflage der deutschen Ausgabe von 1990. Psychosozial-Verlag, Gießen.

[1]  Dr. med. Rüdiger Posth (rund-ums-baby.de/ entwicklung/Kommentar 39595 htm)

[2]  https://www.ash-berlin.eu/hochschule/presse-und-newsroom/presse/pressemitteilungen/verwahrlosung-stress-und-erschoepfung-in-vielen-kitas/

(Dr. Erika Butzmann, Lüerte 36, 27793 Wildeshausen, erika.butzmann@ewetel.net 04431/5704   09-2023)