Problemverhalten bei Tageskindern

Vorbemerkung:
Dies ist ein Beitrag von Dr. Erika Butzmann. Sie ist Entwicklungspsychologin und Erziehungswissenschaftlerin und leitet unter anderem  Weiterbildungsgruppen für Tagesmütter und Tagesväter.
Im folgenden Beitrag berichtet sie aus dieser Arbeit über problematisches Verhalten von Tageskindern und stellt einige Beispiele von tagesbetreuten Kindern dar , die mit dieser Situation überfordert sind und zeitnah Problemverhalten zeigen – auch wenn die Tagespflege gegenüber der Krippenbetreuung einige Vorteile aufweist wie kleinere Gruppen und keinen (oder kaum) Betreuerwechsel.
 
In ihren Weiterbildungen versucht sie den Tagesmüttern (TM) die jeweiligen seelischen Hintergründe der Problemverhalten zu erklären und weist auf Möglichkeiten hin, wie sie diesen Kindern durch ein besseres Verständnis teilweise helfen können. 
In vielen Fällen wäre auch eine Änderung der elterlichen Haltung und/oder der Betreuungssituation angezeigt, was jedoch nur möglich ist, wenn die Eltern zur Einsicht und Mitarbeit bereit sind.

Ansonsten können die Anzeichen von Überforderung sich bei den tagesbetreuten Kindern ähnlich zeigen wie bei Kindern in der Krippe.
(Siehe dazu auch: Auf den Anfang kommt es an)

In der Regel betreuen die Tagesmütter/ -Väter jeweils fünf Kinder meist täglich über mindestens 4, oftmals 6, meistens 8, höchstens 10 Stunden. 

Wenn von „Tagesmüttern“ gesprochen wird, kann dies ebenso „Tagesväter“ bedeuten und wird mit TM abgekürzt. Allerdings gibt es in diesem Bereich nur sehr wenig Tagesväter.

Problemverhalten bei Tageskindern

In den Weiterbildungen für Tagesmütter/Väter (TM) über Verhaltensauffälligkeiten wird häufig von Verzweiflungsaktionen wegen der (zu frühen) Trennung von den Müttern berichtet. Dazu gehören das Anklammern, totales teilweise plötzliches Ausflippen mit schreien, weinen, andere schlagen, Sachen durch die Gegend werfen,…  Dabei sind zumeist weder den TM noch den Müttern/Eltern diese Verhaltensweisen erklärbar. 
Ebenso wenig erklärbar sind ihnen meist die häufigen Situationen, wenn die Mütter von den Kindern beim Abholen geschlagen oder getreten werden oder bei der TM bleiben wollen. 
Auch das  „Bunkern“ von Spielsachen (was ein normales Verhalten während der frühen Ich-Entwicklung ist, in starkem Ausmaß aber auf Verunsicherung hinweist) ist Dauerthema. 
Die Atmosphäre und Konflikte in diesen Situationen belasten alle Beteiligten, wie die TM berichten. 
Weitere Beispiele werden genannt: Viele der Kinder beißen die anderen, wenn sie Frust empfinden. Das ist etwas Typisches für die frühe Gruppenbetreuung (das berichten auch KrippenerzieherInnen). Das weist darauf hin, dass das lange Zusammensein mit Gleichaltrigen für die unter 3-Jährigen eine große Belastung darstellt. Einige TM beschreiben das Verhalten so: die Kinder schauen wie weggetreten und beißen dann zu. 
An den Haaren ziehen, andere schubsen, Spielzeug wegnehmen, Anschreien, Hauen, auf Kleinere draufsitzen sind weitere übliche Verhaltensweisen der Kinder.

Andererseits können sie sich auch sehr empathisch zeigen,  wenn andere Kummer zeigen. Das läuft jedoch bei den 1- und vielen 2-Jährigen noch über die Gefühlsansteckung und ist kein bewusstes soziales Verhalten. Die TM meinten auf meine Nachfrage, dass  diese „empathischen“ Kinder eher die sensiblen schüchternen seien. Aber auch diese zeigten häufig negatives Verhalten, wie oben beschrieben, was als Ventil bei Belastungsempfindungen dient.

Wenn eine sichere Bindung an die Mutter vorhanden ist, zeigt sich die Not der Kinder häufig in folgendem Verhalten: 
Der zweijährige Fabian
 sagt an allen Tagen immer wieder: „Mama arbeiten“. Auch andere Tageskinder wiederholen stereotyp einzelne Sätze ohne Unterbrechung:  „Mama arbeiten“ oder „Mama abholen“ ist häufig dabei.

Kinder, die sich sicher gebunden fühlen, sind viel in Bewegung, erkunden ständig und ahmen nach. So zeigt sich gesundes frühes Interesse und Lernen. Auch das gibt es bei der Betreuung durch TM.

Doch viele TM berichten, wie Kinder in der Ecke mit ihrem Kuscheltier sitzen oder manche die TM wie einen Schatten verfolgen. Viele sähen müde aus, oft mit leerem Blick. Durch einige könne man geradezu durchschauen.
So berichtet eine langjährige TM, dass Kinder, die sich morgens schwer trennen, sich in den 2 Jahren der Betreuung kaum weiterentwickeln. Sie hingen wohl irgendwie in der Dauerschleife ihrer Verlassenheitsgefühle fest.

Viele Kinder können noch nicht mit anderen gemeinsam spielen. Eine TM hat fünf Themenecken aufgebaut, damit bei Unruhe jedes Kind eine Ecke für sich haben kann. Und in jedem Raum habe sie Matratzen liegen, so schliefen ganz viele Kinder zwischendurch mal.
Hohe Schreckhaftigkeit sei weit verbreitet und viele Kinder seien super empfindlich, wenn z.B. draußen nur die Müllabfuhr vorbeifahre oder das Postauto (was auf ein ständig erhöhtes Stressniveau hinweist).

Trösten sei ein Dauer-Thema. Wenn ein Kind weine, sei die ganze Gruppe unruhig.
Eine TM erzählt: In der Coronazeit hatte ich zum Glück nur ein Mädchen das plötzlich innerhalb von wenigen Minuten morgens daran erkrankte. Ich rief die Eltern an zum Abholen. Es waren die anstrengendsten 10 Minuten für mich in nun fast 10 jähriger Tätigkeit als Tagesmutter. Bis die Eltern ankamen, setzte ich mich mit dem kranken Kind eng umarmt in die Küche und versuchte es zu beruhigen, denn ein krankes Kind kann ich nicht alleine lassen. Vier weitere Kinder im Raum schrien oder waren völlig apathisch. Das war das Schlimmste.

Ein in sehr frühem Alter betreutes Kind oder ein Kind aus einer dysfunktionalen Familie kann eine  Primärbindung an die TM entwickeln. Das kann zu einem traumatischen Beziehungsabbruch führen, wenn die Kinder dann mit drei Jahren in den Kindergarten kommen. 

Die nachfolgenden Beispiel zeigen, wie sich im Falle einer Primärbindung an die TM die Kinder verhalten:

Der einjährige Jonas wurde bei der TM abgegeben, setzte sich auf ein Holzpferd und ignorierte die Eltern vollständig. Über mehrere Wochen blieb er anfangs meistens schweigend auf dem Holzpferd sitzen. Irgendwann gesellte er sich zu den anderen Kindern.  Er weinte aber jedes Mal bitterlich, wenn er abgeholt wurde. Das weist auf eine Primärbindung an die Tagesmutter hin. Seine Ignoranz den Eltern gegenüber spricht für eine misslungene Bindungsgeschichte, so dass sich die Bindungssuche auf die Tagesmutter konzentrierte.

Anna, die mit 0;6 zur Tagesmutter kam, sagt „Mama“ zu ihr und will nicht zu den Eltern. Diese sind selbstständig und verlangen von der Tagesmutter, dass sie das Mama-sagen abstelle. Das Kind ist hoch unruhig. Es soll jetzt in die Krippe und dann in den Kindergarten kommen, damit die Bindung an die Tagesmutter abgebrochen wird. Was das jedoch für das Kind bedeutet, wird nicht bedacht: denn Bindung ist ein Grundbedürfnis der Kinder, ganz besonders der unter Dreijährigen. Der Abbruch von Bindungsbeziehungen erzeugt Trennungs- und Verlassenheitsängste und führt in der Folge zu einem negativen Selbstbild und schlechten Selbstwertgefühl.

Wenn die Kinder beim Abholen weinen, kann das ein Zeichen dafür sein, dass sich die Kleinen nun bei der vertrauten Mutter (Vater) -im Fall einer guten Bindung an diese- endlich entspannen, loslassen und ihren Gefühlen freien Lauf lassen können.
Das Weinen beim Abholen, sich verstecken, schreien und sich dagegen wehren können auch Anzeichen dafür sein, dass die Kleinen den Eltern böse sind, dass diese sie so lange verlassen hatten. 
So berichtet eine TM, dass manche Mütter fragen, wenn sie beim Abholen geschlagen und weggeschubst würden, ob denn etwas in den letzten Minuten vorgefallen sei? Die TM weiß es besser: Es war etwas in den letzten Stunden: Die Mama war weg!

Ebenso können dies aber auch Anzeichen für eine stärkere Bindung an die Tagesmutter als an die Eltern sein. (Für die jeweils passende Interpretation des Verhaltens, müssen weitere Beobachtungen/ Umstände in Betracht gezogen werden.)
Letzterer Fall (TM als Primäre Bindungsperson) kann vor allem bei den Kindern vorkommen, die bereits im Alter von einem Jahr oder früher ganztags und alle Wochentage bei der TM untergebracht sind. Diese wollen teilweise nicht zu Hause bleiben, nicht zu Hause essen und schlafen. 

Der zweijährige Max zum Beispiel haut und beißt die Mutter, wenn sie ihn abholen will, geht aber mit, wenn der Vater ihn abholt. Dies erklärt sich daraus, dass die Bindung an den Vater als nächst wichtige Bindungsperson über Spiel und Spaß verläuft, jedoch durch eine weitgehende Abwesenheit des Vaters nicht so stark durch die Tagesbetreuung eingeschränkt wird. Die primäre Bindungsperson als Ersatz für die Mutter ist bei Max daher die TM. 

Oder der dreijährige Franz, der morgens sofort ins Haus der Tagesmutter stürzt, die Verabschiedung von den Eltern verweigert und sich versteckt, wenn er abgeholt wird.

Viele Tagesmütter kennen es, dass einzelne Tageskinder, die sie sehr früh und lange am Tag betreut hatten, auch im Jugendalter noch eine enge Bindung an sie zeigen, indem sie ihre Probleme lieber mit der Tagesmutter  besprechen wollen und nicht mit der Mutter oder dem Vater.

Wenn die Kinder keine sichere Bindung aufgrund elterlichen Fehlverhaltens entwickeln können und auch die Tagesmutter als Bindungsperson abgelehnt wird, können sich die Verhaltensweisen der Kinder folgendermaßen zeigen:

Konrad, dreieinhalb Jahre, kam mit 9 Monaten zur Tagesmutter. Aktuell klammert er manchmal schreiend an der Mutter oder der Oma, wenn er gebracht wird und zittert am ganzen Körper. Er sagt dann, dass er weinen will. Nach einiger Zeit scheint er sich zu beruhigen und spielt. Da er unregelmäßig von  verschiedenen Leuten aus der Familie abgeholt wird, ist er ständig auf dem Sprung und fragt die TM, wer ihn abholt. Diese hohe Unruhe und der angesammelte Stress seines kurzen Lebens führen zu Ausrastern mit akuten Angstattacken, verlassen zu werden.

Der dreijährige Hannes ist seit einem Jahr bei der TM (wo er vorher war, ist nicht bekannt). Seit diesem Zeitpunkt ahmt der alle und alles ununterbrochen nach. Der TM erscheint es, als würde er in einem Wahn stecken. Jede Geste, jede Äußerung und jede Bewegung eines jeden Kindes und der TM ahmt er nach. Er spielt nicht, macht auch sonst nichts, sondern ist vollkommen auf die  anderen konzentriert, um sie nachzuahmen. Zu Hause ahmt er die Äußerungen der Eltern nach (Geschwister hat er keine). Das deutet darauf hin, dass er keine Beziehung zu sich selbst bzw. kein Empfinden einer eigenen Identität aufbauen konnte, sich selbst sozusagen „fremd“ ist und sich nur über andere „definieren“ kann. Denn das  „Selbst“ oder „Ich“ entsteht am „Du“. Offenbar hatte er keine ausreichend verlässliche Bindungsperson erlebt, die ihn angemessen wahrgenommen, angenommen und „gespiegelt“ hatte, sodass er sich durch ihre Resonanz in der Beziehung zu ihr hätte selbst wahrnehmen und entdecken hätte können.

Wie irritiert manche der Tageskinder in ihren Bindungsempfindungen sind, zeigt folgendes Beispiel:

Joris (2;6) flippt immer wieder aus dem Stand aus, ohne erkennbaren Grund. Er wird dann sehr wütend, geht auf die anderen los und wirft Sachen durch die Gegend. Die TM hat nach meiner Erklärung über die Ursachen (das aus dem Stand ausflippen, komme bei ihm durch die immer wieder aufflammenden Trennungs- und Verlassenheitsängste) an einem Montagmorgen Joris beobachtet und gesehen, wie er plötzlich sehr unruhig wurde und die Hände verkrampfte. Sie hat sich zu ihm gesetzt und ihn gefragt, ob die Mama ihn heute abhole. Er bejahte das wild. Sie führte das weiter, indem sie fragte, ob sie mit dem Auto oder dem Fahrrad komme.  Joris stand nach einer Weile auf und ging spielen. Es gab an diesem Tag keinen Wutanfall. Am nächsten Tag war es der gleiche Ablauf. Als Joris unruhig wurde, nahm die TM sofort wieder das Gespräch über die Mama mit ihm auf. So blieben die Wutanfälle die ganze Woche aus. Sie hat ihn mit diesem Annehmen, Verstehen und  Thematisieren seiner Ängste in seiner Not erkannt, was für Joris eine Bestätigung seiner eigenen Gefühle bedeutete  und ihn so beruhigte, dass er spielen konnte. 

Am Freitag sollte dann der Vater den Jungen abholen, worauf er sich sehr freute. Die TM wartete mit Joris auf der Bank. Dann kam jedoch die Mutter auf den Hof gebraust. Joris versteckte sich bei der TM und wollte nicht zur Mutter gehen. Die TM hat sofort das Problem aufgegriffen und gesagt, dass sich Mama und Papa wohl abgewechselt haben und jetzt sei Mama dran. Daraufhin ging Joris zur Mutter, denn er hatte Verständnis und eine Erklärung für seine Verwirrung erhalten. Auch hier dürfte die Bindung an die Mutter unsicher sein, sonst hätte er sich vermutlich trotz der unvorhergesehenen Situation über ihr Auftauchen gefreut.

Dies sind nun einige Beispiele problematischer Verhaltensweisen bei Tageskindern, wobei das größte Problem in der zu frühen und zu langen Trennung von den Eltern, vor allem der Mutter liegt. Davon betroffen sind in erster Linie die Kinder mit einem eher ängstlichen, schüchternen Temperament. Die deutlich außenorientierten Kinder, die nicht so sehr durch Trennungs- und Verlassenheitsängste geplagt sind, können die Fremdbetreuung bzw. Tagesbetreuung ab dem zweiten Geburtstag eher vertragen.

Erika Butzmann, August 2023