Moritz war gerade mal sechs Monate alt, da rückte der allgemeine jährliche Bewerbungsstichtag aller öffentlichen Kitaplätze näher. Meine Freundinnen und Bekannten aus den Babykursen hatten sich zum Großteil längst angemeldet und auch mir wurde geraten, mich möglichst bald zu bewerben, wenn ich Aussicht auf einen der allseits begehrten Plätze haben wollte. Denn – so hörte ich immer wieder von den verschiedensten Seiten – “Kinder brauchen Kinder“ und außerdem möglichst “frühe Förderung“. Obwohl mir das alles von Anfang an sehr früh vorkam: Ganz klar, was für mein Kind wichtig und für seine Entwicklung vorteilhaft ist, wollte ich ihm auf keinen Fall vorenthalten!
Also stürzten wir uns in einen Besichtigungsmarathon der unterschiedlichen Kindertagesstätten. Da wir mitten in Stuttgart leben, kommen viele Einrichtungen in Frage, die alle in unserem Einzugsgebiet liegen. Alleine über Internet kann man in einer Wunschliste zehn unterschiedliche Träger angeben. Trotzdem gehen viele Bewerber ohne aus, die Plätze sind sehr gefragt.
Allein die vielen Besichtigungstermine in Begleitung unseres Babys gestalteten sich als anstrengend. Ich fragte nach den jeweiligen Kita-Konzepten, nach dem Tagesablauf und nach dem Betreuerschlüssel – ohne dass mich die erhaltenen Antworten wirklich weitergebracht hätten. Eine Bekannte meinte: “Wenn Du die richtige Kita gefunden hast macht es bei Dir klick“. Aber es machte bei mir nirgends klick. Im Gegenteil, ich wurde immer verwirrter: Wäre es nun für mein Kind besonders gut, wenn es in eine sogenannte altersgemischte Gruppe kommt, in der Kinder aller Altersklassen unter sechs Jahren zusammen betreut werden, damit es dann von den älteren Kindern lernen kann? Oder wäre es besser, wenn es in einer “offenen Gruppe“ mit anderen Kitagruppen spielen kann? Oder wäre es für Moritz am besten, wenn er in einer festen Gruppe seiner Altersklasse verweilte, da ihm das mehr Sicherheit und Kontinuität gab? Waren sogenannte Themenbereiche oder Zimmer wichtig, in denen sich die Kinder täglich entscheiden können, ob sie heute eher Lust auf Malen oder Verkleiden haben, so wie das in den offenen Gruppen der Fall ist? Und wie um Himmels Willen, schaffte es die Tagesmutter neben der Betreuung ihrer fünf Sprösslinge noch, für diese das Mittagessen zuzubereiten? Und überhaupt: Gingen die Gruppen auch regelmäßig an die frische Luft bzw. waren die oft sehr kleinen, für meine Begriffe meist ziemlich nüchtern eingerichteten Außenbereiche genug für kleine Menschen mit einem so unglaublich ausgeprägten Bewegungsbedürfnis?
Gleichzeitig wuchsen in mir die Zweifel: Am wohlsten, über einen längeren Zeitraum betrachtet, fühlte sich Moritz bei mir. Nicht bei seinem Papa und auch nicht bei Oma und Opa oder anderen bekannten Personen. Bei mir war er am gelöstesten, am entspanntesten und am zufriedensten. Gleichzeitig schien er sich kaum für andere Kinder – beispielsweise in der Krabbelgruppe – zu interessieren, zumindest trat er nicht wirklich in Interaktion mit ihnen, sondern konzentrierte sich auf das Entdecken seiner unmittelbaren Umgebung. Das gleiche berichteten mir Mamas Gleichaltriger sowie Mütter mit deutlich älteren Kindern unter drei Jahren.
In heute noch natürlich lebenden Urvölkern bleiben die Kinder üblicherweise bis drei oder vier Jahre sehr eng bei ihrer Mutter, so hatte ich gelesen, erst dann werden sie in die gemischtaltrige Kindergruppe entlassen, da sich Kinder ab drei Jahren überhaupt erst beginnen, sich in Gruppen zu sozialisieren und zu behaupten.
Aber was war denn nun das Beste für mein Kind? Fieberhaft suchte ich nach einer Quelle, die mir wirklich fundierten und fachkundigen Rat geben konnte und das war in dem ohnehin sehr dichten Alltag mit Baby alles andere als einfach.
Am Ende hatte ich großes Glück, dass ich zur rechten Zeit auf den Arbeitskreis frühe Entwicklung und die Arbeit der langjährigen und erfahrenen Kinder- und Jugendlichen- Psychotherapeutin Gisela Geist aufmerksam wurde, die darin die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Studien zum Thema Fremdbetreuung von Kindern unter drei Jahren untersucht und zusammengefasst hat. Es war mir gar nicht bewusst, dass es zu diesem Thema bereits so viele Studien gibt, vor allem aber waren mir deren Ergebnisse bis dahin völlig unbekannt! Mein Mann und ich waren unsagbar froh darüber, dass sich jemand die Zeit genommen hatte, viele Studien miteinander zu vergleichen und die Mühe aufgebracht hatte, diese gut verständlich zusammenzufassen.
Wie ging es weiter? Moritz ist mittlerweile zwei Jahre alt und wir werden ihn erst mit gut drei Jahren in den Kindergarten geben. Wir gestalten unseren Alltag gemeinsam, gehen täglich nach draußen und genießen die gemeinsame Zeit zusammen, die viele Familien – als sogenannte “quality time“, nur auf wenige Abendstunden täglich beschränkt – zur gemeinsamen Verfügung haben.
Ich, die sich früher als leitende Angestellte für meinen Arbeitgeber die Nächte und häufig auch die Wochenenden um die Ohren schlug, empfinde es als riesigen Luxus und als große Freiheit, unsere Tage so einteilen zu können, wie es uns beiden gut tut: Scheint die Sonne gehen wir nach draußen, regnet es, besuchen wir andere Mamas mit ihren Kindern oder gehen in die Stadtbücherei. In welchem Job hat man solche Freiheiten?
Mittlerweile habe ich mich tiefer in das Kita-Thema eingelesen und viele weitere Autoren gefunden, die meine Entscheidung, mein Kind die ersten drei Jahre zu Hause zu lassen, fachlich bestätigen. So kommt beispielsweise der bekannte und renommierte Kinderarzt und Erziehungswissenschaftler Herbert Renz-Polster in seinem Buch “die Kindheit ist unantastbar“ genau zu den gleichen Ergebnissen wie Frau Geist in ihrer Arbeit. Auch habe ich mich mittlerweile mit einigen Erzieherinnen intensiv unterhalten und alle davon sagten mehr oder weniger offen, dass sie ihr eigenes Kind nicht vor drei Jahren in die Kita geben würden.
Über die mit Moritz verbrachte Zeit kann ich sagen, dass unsere Beziehung immer vertrauter wird. Das unsichtbare Band zwischen uns wird immer stabiler. Auch gestaltet sich das zweite Jahr zuhause mit Kind deutlich einfacher als das erste, als würden wir langsam die Früchte der guten Bindung ernten, die sich ganz langsam zwischen uns aufgebaut hat – und natürlich wird auch das Kind immer selbstständiger, wodurch man als Mama wieder mehr Freiheiten genießt.
Dadurch, dass ich Moritz den ganzen Tag hindurch begleite, mit ihm seine kleinen und großen Abenteuer bestehe, seine Freuden hautnah miterlebe genauso wie seine Frustrationen und Ängste, kenne ich sein Wesen recht genau und kann ihn entsprechend gut auffangen und beruhigen, wenn es immer mal wieder auch schwierigere Momente und Tage gibt. Obwohl er bislang nur mit einigen Worten verbal mit mir kommuniziert, habe ich gelernt, seine Bedürfnisse gut zu verstehen, Schreikrisen oder ähnliches erleben wir zum Glück nur sehr selten.
Wir genießen täglich von neuem unsere gemeinsamen Stunden, einfach den unglaublichen Luxus, in dieser schnelllebigen Welt tatsächlich Zeit füreinander zu haben, über die man frei verfügen kann. Moritz entwickelt sich immer mehr zu einer eigenen Persönlichkeit und ich freue mich zu sehen, wie er immer selbstständiger wird, interessiert alles Mögliche erforscht, kreativ und immer ausdauernder spielt und offen auf andere Menschen zugeht – vor allem wenn ich als sicherer Hafen in der Nähe bin.
Natürlich ist es oft auch sehr anstrengend, den ganzen Tag über ohne Pause, Mama zu sein. Ich habe kaum Zeit für mich und falle abends todmüde ins Bett. Aber das wäre bei jeder fordernden Arbeitsstelle, der ich nachgehen würde, genauso – wäre ich nicht mit meinem kleinen Jungen zu Hause. Und aus meiner bisherigen Arbeitserfahrung heraus kann ich nur sagen: Kein anderer Job kam mir bisher so sinnerfüllt vor und bei keiner anderen Arbeit habe ich bislang so viel zurückbekommen.
Wie heißt es in der Arbeitswelt doch so schön: Niemand ist unersetzlich. Als Mutter gilt das definitiv nicht. Und: Ich habe mir ausgerechnet, dass ich zum momentanen Zeitpunkt, nach Beendigung meines dritten Jahres Elternzeit, bis zur Rente immer noch mehrere Jahrzehnte arbeiten darf – ich finde das reicht allemal!