Das Wohl der Kleinsten

Von Gisela Geist

INHALTSVERZEICHNIS

Vorbemerkung

Hinweise zu Studien zur Kitabetreuung U3

Ergebnisse der Hirnforschung/Neurobiologie

Einführung in Frühkindliche Grund- und Bindungsbedürfnisse

Aus meiner psychotherapeutischen Erfahrung

Ergebnisse der Bindungsforschung

Qualitätsanforderungen Kita U3

Zur Realität in den heutigen Kitas U3

Alternativen zu Kita U3

Elternsein als Chance

Mögliche politische Konsequenzen

Literatur

Vorbemerkung

Bei der individuellen Entscheidung, ab welchem Alter und in welcher Form die Betreuung des Kindes organisiert wird, verlassen sich Eltern meist auf die derzeit gängige öffentliche Meinung, was Familie und Freunde raten oder Zeitschriften. In ihrem oft allzu dichten Alltag finden sie nicht die Zeit, sich in Studien einzuarbeiten oder sich in wissenschaftliche, psychologische und pädagogische Erkenntnisse und Forschungen zu vertiefen.

Viele Zeitungen und Broschüren empfehlen jungen Eltern, sich rechtzeitig
(ab dem 2. oder 3. Lebensmonat, besser schon vor der Geburt) nach einem Kita-Platz für ihr Kind umzuschauen. Sie befürworten größtenteils frühe Fremd- und Gruppenbetreuung in Krippen oder Kindertagesstätten unter 3 Jahren (Kitas U3) und berufen sich auf
„neue wissenschaftliche Erkenntnisse“.
Vielgenannte Schlagworte sind:

– Frühe Förderung
– Frühe Bildung
– Chancengleichheit
– Kontakt zu anderen Kindern – Sozialkompetenz
– Vorteile durch weitere Bindungspersonen

Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Und so ist es zum gesellschaftlichen Standard geworden, dass viele Eltern besten Willens ihre Kinder früh in Kitas betreuen lassen.

Hinzu kommt, dass das erste Jahr mit dem Kind oft recht mühsam und kräftezehrend ist, die Mütter/Eltern oft alleine gelassen sind und ihren Beruf mit sozialem Umfeld und Anerkennung vermissen. Auch finanzielle Aspekte spielen häufig eine Rolle.
Seit August 2013 gibt es sogar den rechtlichen Anspruch auf sogenannte frühkindliche Förderung in Krippen ab einem Jahr, „wenn Förderung nötig, die Eltern arbeiten, in Ausbildung oder Arbeit suchend sind, auch früher“ heißt es im Gesetz.

Dabei ist es erstaunlich, wie schnell sich die gesellschaftliche Einstellung zu Fremdbetreuung von Kleinkindern geändert hat. Es ist noch nicht lange her, da wurden die Kinder nur in Notfällen vor dem dem vollendeten 3. Lebensjahr in Fremdbetreuung gegeben. Auch die zunehmende berufliche Höherqualifizierung der Frau änderte daran erst einmal wenig. Zumindest in Westdeutschland wurde dieses Konzept staatlich gestützt und die Einkommensstruktur erlaubte großen Teilen der Bevölkerung, dass nur eine(r) erwerbstätig war und die/der andere sich um die Kinder kümmerte.

Erst im Rahmen der Liberalisierungspolitik der EU (Lissabon 2000, Barcelona 2002) als alle staatlichen Leistungen und Prinzipien auf den Prüfstand gestellt wurden und 2001 die Wirtschaft weltweit in die Krise ging, wurden Analysen über die volkswirtschaftliche Rentabilität von Kindertagesbetreuung erstellt, aufgrund der volkswirtschaftlichen Relevanz der Frauenerwerbstätigkeit und des Geburtenrückgangs in Europa. In dem Bericht des Europäische Rats in Barcelona werden Ziele formuliert, es heißt wörtlich:
„Die Mitgliedstaaten sollen Hemmnisse beseitigen, die Frauen von einer Beteiligung am Erwerbsleben abhalten…“(1)
2016 waren im Großraum Stuttgart 47% der unter 3-Jährigen in Krippen- oder Tagespflege (dabei sind die unter Einjährigen – also ca. 1/3 der Unter 3-Jährigen – mitgerechnet, die ja meist noch familiär betreut werden). Der Bedarf entsprechend der Anfragen lag sogar bei 60% laut der zuständigen Bürgermeisterin. Das heißt nahezu für alle Kleinen ab einem Jahr wurde Bedarf angemeldet. Die Zahlen dürften sogar noch weiter gestiegen sein.

Im Zusammenhang mit dem Krippenausbau wurden weltweit vielfältige Feldstudien in Auftrag gegeben, die den Einfluss der frühen Fremd- und Gruppen-Betreuung von Kleinkindern auf ihre Entwicklung erfassen und so eine wissenschaftliche Grundlage erstellen sollten.

Mit dieser Schrift möchte ich den Eltern darüber einen Einblick und Überblick ermöglichen. In meiner 30-jährigen Arbeit als Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin habe ich vielfältige Erfahrungen gesammelt und mich eingehend mit der frühkindlichen Entwicklung befasst.

In den folgenden Ausführungen soll es in erster Linie um das Wohl der Kinder gehen. Ich möchte Zusammenhänge in der psychosozialen Entwicklung des kleinen Kindes beschreiben mit den möglichen Folgen bei guter oder aber mangelnder Erfüllung frühkindlicher Grund- und Bindungsbedürfnisse.

Hinweise zu Studien zur Kitabetreuung U3

Empfehlenswert ist es, zuerst einiges über die bereits erwähnten Studien über Auswirkungen von Fremd- und Gruppenbetreuung in Kinder-Tagesstätten für Kinder unter 3 Jahren unter „Studien“ zu lesen. Dazu habe ich mich mit vielen der häufig genannten Studien auseinandergesetzt.

Übersicht bekannter Studien zur Kitabetreuung U3
Hier finden Sie einige häufig genannte Studien.

„Widersprüchlichkeit vieler empirischer Studien“ Hier belommen Sie einen Einblick nehmen, warum viele Studien widersprüchliche Aussagen haben.
Auf der nächsten Seite folgen dann Studien zum

Stresshormon Cortisol und Erkenntnisse der Neurobiologie.
Hier finden Sie Ergebnisse der Neurobiologie und vieler Studien, die das objektiv messbare Stresshormon Cortisol als Forschungsgrundlage haben. Diese Studien weisen alle in die gleiche Richtung.

Studien zur Qualität in Kitas
Hier geht es um die Qualität der derzeitigen Qualität der Kitabetreuung in Deutschland.

Ergebnisse der Hirnforschung/Neurobiologie

In den 90er Jahren ist die Forschung dem Stresshormon Cortisol auf die Spur gekommen, das sich leicht aus dem Speichel bestimmen lässt. Nicht nur bei Soldaten und medizinischem Notfallpersonal wurden auf diese Weise hohe Stressbelastungen dokumentiert, sondern auch bei Krippenkindern.
Bei Krippenkindern kann dies zurückgeführt werden auf den psychosozialen Stress durch Verunsicherung, Trennung von der primären Bezugsperson – verbunden mit Verlassenheitsängsten, durch mangelnde Zuwendung, Erschöpfung, die Fülle von Eindrücken in der Gruppenbetreuung etc.
In groß angelegten Studien (6),(7),(8) mit der objektiven Forschungsmethode der Cortisol-Messungen, fand man in verschiedenen Ländern heraus, dass Krippenkinder in den ersten Wochen um 70-100% erhöhte Cortisolwerte aufweisen wie Vergleichskinder in ihren Familien. Diese Spiegel sinken zwar mit der Zeit, jedoch sind sie nach 5-6 Monaten noch deutlich erhöht (12).
Ein weiteres besorgniserregendes Ergebnis: Im Gegensatz zu familiär betreuten Kindern, deren Cortisol-Level morgens am höchsten ist und sich während des Tages allmählich abbaut, stieg der Cortisol-Level der Kinder in Gruppen- Fremdbetreuung im Laufe des Tages ständig weiter an, selbst bei gehobener bis sehr hoher Betreuungsqualität. (7),(8),(12)
Das bedeutet, dass diese Kinder ganz offenbar immer mehr unter Stress geraten.
Erst mit 5-6 Jahren, also im späten Kindergarten- bis Schulalter war der Anstieg kaum noch relevant.
Viele Studien belegen, dass der erhöhte und veränderte Cortisolverlauf besonders auffällig ist bei Kindern unter 3 (und noch mehr unter 2) Jahren, selbst bei sehr guter Betreuungsqualität (s. dazu auch Böhm (15))

Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass vor allem die Trennung von den Eltern und die Gruppensituation die Kinder emotional überfordern. Die Qualität der Einrichtung scheint -besonders unter 2-3 Jahren- zweitrangig zu sein.
Nach R. Böhm (15) entsprechen die Cortisolverläufe bei Krippenkindern etwa denen eines Managers mit extremer Berufsbelastung.
Weiter schreibt er in seinem Beitrag „Die dunkle Seite der Kindheit“,
dass chronische Stressbelastung auch ein Kernphänomen bei vernachlässigten und misshandelten Kindern ist.

Was sind die Auswirkungen von dauerhaftem und frühkindlichem Stress?

  • erhöhter Stress führt zu sehr bedeutsamen Veränderungen im Körper. Es ist, als ob der Körper sagt: „Ich bin in einer Notsituation und muss meine Reserven anders verteilen!“ Was also passiert: Die Ressourcen des Körpers werden vom Wachstum abgezogen. Mit steigendem Cortisol sinkt der Wachstumshormonspiegel.
    Und das Organ, welches in den ersten 3 Jahren am stärksten wächst, ist das Gehirn.
    Wir stellen also fest, dass Kinder unter erhöhtem Stress nicht die Zahl der neurologischen Verbindungen im Hirn entwickeln, die in dieser Phase wachsen sollten. Sie lernen also weniger. (Biddulph, (12))
  • Besonders negativ verändert zeigen sich nach Böhm (15) und anderen Wissenschaftlern die Cortisolwerte bei Kindern in Krippenbetreuung unter 2 Jahren. Die ersten beiden Lebensjahre zählen zu den besonders heiklen Phasen der Entwicklung des Gehirns. In dieser sensiblen Phase kann Stress zu dauerhaften Stress-Regulationsstörungen des Menschen führen, sich sogar „in die Gene eingraben“ und weitervererbt werden. Weiter heißt es bei Böhm: „Die Wissenschaft weiß mittlerweile, dass chronische Stressbelastung durch kindliche Vernachlässigung und Misshandlung mit einem langfristig deutlich erhöhten Risiko verbunden ist, an schwer behandelbarer Depression zu erkranken oder an anderen psychischen Störungen.“
  • Später besteht ein erhöhtes Risiko von emotionalen Dysfunktionen:
    Überreaktion, Depression, Angst (Behncke (8))
  • Frühkindlicher Stress, der durch negative Bindungserfahrungen entsteht, aktiviert im Gehirn dauerhaft ähnliche Schaltkreise wie Panikzustände und körperlicher Schmerz.
    (Dr. Jürgen Wettig, leitender Arzt für Neurobiologie, Psychiatrie und Psychotherapie im ZSP Rheinblick (16))
  • Der erhöhte Stresslevel beeinträchtigt die Immunabwehr, sodass die Kinder viel häufiger Infektionen und Krankheiten erleiden.
    Auch kommen vermehrt somatische Erscheinungen wie Neurodermitis, Kopf- und Bauchschmerzen hinzu.
    (Behncke (8), Böhm (15))
  • Langfristig besteht ein erhöhtes Risiko für chronische körperliche Krankheiten oder für eine Beeinträchtigung des Gedächtnisses.
    (Behncke (8), Böhm (6))
  • Bei Dauerstress sinkt der morgendliche Cortisolspiegel unter die Norm ab. So mündet die dauerhafte Aktivierung des Stresssystems oft in einer Erschöpfungsreaktion mit Antriebs-, Motivations-, Interesselosigkeit, Abgeschlagenheit und Müdigkeit. (Symptome, die ebenfalls bei Depression oder „Burn-out“ zu finden sind).
    Kinder unter 3 Jahren zeigten nach der Wiki-Studie (Wiener Krippenstudie 2007-2012 unter W. Datler) bereits nach 5 Monaten, unter 2-Jährige sogar schon nach 2 1/2 Monaten, durchschnittlicher Krippenbetreuung stark abgesenkte Cortisol-Tagesprofile. Diese sind vergleichbar mit den Werten, die in den 90er Jahren in rumänischen Waisenhäusern gemessen wurden.(Böhm, (15))
    Die 15-jährigen Jugendlichen (siehe 2.3.7, Roisman-Studie) beider Gruppen – die vernachlässigten und misshandelten, sowie die frühbetreuten Krippenkinder – hatten nach dem Aufwachen vergleichbare und signifikant niedrigere Cortisol-Werte als andere Jugendliche. Damit einhergehend wurden dauerhafte Stressregulationsstörungen festgestellt.
    Bei Erwachsenen mit antisozialem Verhalten zeigen sich ebenfalls niedrigere Cortisolwerte am Morgen. (Behncke (8))

Krippenbetreuung wirkte sich weder kompensatorisch noch schützend aus, sondern im Gegenteil: in der Roisman-Studie (nach Böhm (13)) wurde nachgewiesen, dass sich die negativen Auswirkungen von dysfunktionalen Familien und Krippenbetreuung sogar addieren.
Verbreitet ist dagegen die Meinung, dass zumindest Kinder, welche aus dysfunktionalen Familien kommen, wo z.B. Gewalt und/oder Verwahrlosung herrschen (nach einem offiziellen Gutachten von 1990 in Prof. Annette Streek-Fischer Beitrag in: „Kinder brauchen Wurzeln“ sind es mindestens 10%) von einer Kita-Betreuung profitieren, da sie dann weniger Zeit in diesem häuslichen Umfeld zubringen müssen. Hier wird jedoch nachgewiesen, dass sich dadurch keine Kompensation der häuslichen Problematik ergibt, sondern das Gegenteil der Fall ist, denn es geht dann um 2 unterschiedliche Stresssituationen. Die negativen Effekte problematischer Familien und die der Gruppen-Fremd-Betreuung addieren sich.

Damit erweist sich wieder, wie irreführend der Begriff „Chancengleichheit“ und „Frühkindliche Förderung“ in Tageseinrichtungen im Allgemeinen ist.

Abschließend folgendes Zitat von R. Böhm (15):

„Säuglinge und Kleinkinder können Stressbelastungen noch nicht in Worte fassen. Auch in ihrem Verhalten sind Anzeichen für chronischen Stress oft diskret, wenn nicht fast unmerklich. Jetzt haben die neuen Techniken zur Messung von Stress ein weiteres Fenster zur Seele des Kleinkinds geöffnet. Derzeit fällt es vielen noch schwer, das Bild anzunehmen, das diese neuen, objektiven Messdaten zu erkennen geben. Aber es führt kein Weg um die Einsicht herum, dass die Mehrheit ganztags betreuter Krippenkinder, selbst wenn sie bestenfalls in schönen Räumen mit anregendem Spielzeug von engagierten Erziehern oder Erzieherinnen betreut wird, den Tag in ängstlicher Anspannung verbringt, dass sich dies bei einem Teil der Kinder in anhaltenden Verhaltensauffälligkeiten niederschlägt, und dass mit dieser Form der Betreuung Risiken für die langfristige seelische und körperliche Gesundheit einhergehen. Die Gesellschaft muss sich also der Tatsache stellen, dass sich emotionale Misshandlung nicht nur unter familiären oder institutionellen Deprivationsbedingungen, sondern – unbeabsichtigt – häufig auch im kognitiv stimulierenden Umfeld einer Krippe ereignet.“ (15)

Dr. K. Sarimski, Professor für Frühförderung in Heidelberg weist als Schlussfolgerung aus seinen Forschungen (Böhm (7)) auf die hohe Bedeutung der zuverlässigen Verfügbarkeit der Eltern als primäre Bindungspersonen und des vertrauten familiären Umfelds für die seelische Gesundheit unter 3-jähriger Kinder hin und betont:

„Elterliche Zuwendung ist ein biologischer Schutzfaktor für die Gehirne kleiner Kinder.“

Der Neurobiologe Prof. Gerald Hüther, (17) schreibt in seinem Aufsatz: „Die Bedeutung emotionaler Sicherheit für die Entwicklung des kindlichen Gehirns“ über den Einfluss positiver früher Bindungs- und Beziehungserfahrungen auf die Entwicklung von (Selbst-) Vertrauen als Basis für differenzierte Entwicklungsprozesse im kindlichen Gehirn. Er betont, dass frühe Bindungsstörungen dagegen eine differenzierte Entwicklung des Gehirns und der Persönlichkeit behindern, was im späteren Leben nur schwer korrigierbar ist. Er beschreibt, wie die Kinder versuchen, den Mangel an emotionaler Sicherheit zu kompensieren durch verstärkte Selbstbezogenheit, was mangelndes Einfühlungsvermögen und Beeinträchtigung von Sozialkompetenz zur Folge hat. Hüther beschreibt, wie sich diese Kinder gegenüber fremden Einflüssen und Anregungen insgesamt abschirmen. So können keine vielfältigen neuen Erfahrungen gemacht und im kindlichen Gehirn verankert werden. Wichtige Entwicklungsprozesse im kindlichen Gehirn finden nicht mehr oder nur eingeschränkt statt.

Für das Lernverhalten der Kinder bedeute dies einen Rückgang an Motivation, Verstehen, Behalten, Erinnern, Erkennen von Zusammenhängen und eine eingeschränkte Fähigkeit beim Erkennen und Lösen von Konflikten.
Auch in der späteren Entwicklung könnten Leitbilder, Orientierung und soziale Kompetenz nur in zuverlässigen, intensiven Beziehungen vermittelt werden. Beziehungen, in welchen die Menschen einander wichtig und in ihrer Einzigartigkeit bedeutsam sind.

Dr. Jürgen Wettig, Leitender Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, beschreibt in aller Kürze (16) neurophysiologische Zusammenhänge in der frühen Hirnentwicklung:
„Anhaltender frühkindlicher Stress führt im unreifen Hirn zu einer bleibend erhöhten Empfindlichkeit der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse sowie zu einer Volumenverminderung des Hippocampus durch erhöhte Glucokortikoidspiegel. Frühkindliche Traumata oder Stress bedingen Dysfunktionen in der Ausbildung von Synapsen, Störungen der Migration sich entwickelnder Nervenzellen oder fehlerhafte Differenzierung funktioneller Neuronenverbände (Amygdala, Hippocampus, anteriorer Gyrus cinguli, präfrontaler Kortex). Man vermutet eine spezifische Vulnerabilität im Bereich des limbischen Systems und des Hirnstammes der rechten Hirnhälfte, da Funktionen wie Bindungs- und Beziehungsverhalten, Affektregulation und Stressmodulation primär rechtshemisphärisch gesteuert werden.“
Er zieht folgende Schlüsse:
Demzufolge sind sichere Bindungserfahrungen Voraussetzung für die Balance der Stressachse im kindlichen Gehirn und für die effiziente neuronale Vernetzung.

Andauernde Bindungsdefizite stellen die Basis für Psychopathologie beim Erwachsenen dar. (…) Neurowissenschaftlich gibt es heute keinen Zweifel daran, dass frühkindliche Erfahrungen an der Konstruktion des Neuronennetzwerkes im Gehirn maßgeblich beteiligt sind und so die künftige Persönlichkeit formen. (…) Heute ist es bekannt, dass die neuronale Verschaltung im Gehirn unmittelbar mit der erfahrenen Sozialisation zusammenhängt, die in den ersten 3 Lebensjahren stattfindet. Diese Strukturierung des Gehirns bestimmt später entscheidend, wie Beziehungen gesucht und gestaltet werden.

Frühkindlicher Stress, der durch negative Bindungserfahrungen entsteht, aktiviert im kindlichen Gehirn dauerhaft ähnliche Schaltkreise wie Panikzustände oder körperlicher Schmerz.

Das Kind wird zur starken Persönlichkeit, wenn ihm seine Bezugspersonen vermitteln:
Du bist nicht allein und verloren. Du bist wertvoll und wichtig.“

Einführung in Frühkindliche Grund- und Bindungsbedürfnisse

Im Folgenden möchte ich eine Brücke schlagen von den vorigen Kapiteln zu Erkenntnissen über die frühkindliche Entwicklung aus der Tiefenpsychologie und analytischen Psychotherapie. Sie verfügt über jahrzehntelange klinische Erfahrung über Zusammenhänge frühkindlicher Betreuungsbedingungen mit der späteren seelischen Entwicklung. Aus dieser Sicht können sich einige Erklärungen herleiten für die oben genannten Forschungsergebnisse.

Eine sichere Bindung ist das zentrale Bedürfnis der frühen Kindheit.
Wenn wir Säuglinge erleben, sehen wir, wie abhängig und hilflos sie sind. Sie werden im ersten Jahr auch als „physiologische Frühgeburt“ bezeichnet.
Ebenso wie sie von körperlicher Fürsorge abhängig sind, so sind sie auch von der Erfahrung einfühlsamer Zuwendung und Geborgenheit abhängig innerhalb einer primären Bindungsbeziehung, die sich im ersten Lebensjahr mit der wichtigsten Fürsorgeperson, naturgemäß der Mutter entwickelt. In der engen Verbundenheit mit ihr kann das Kind Sicherheit erfahren und langsam Vertrauen fassen zu einer noch fremden Welt, der es anfangs völlig hilflos ausgeliefert ist und in welcher – ohne jegliche Erfahrung und Zuordnung -Gefühle von Verunsicherung und Bedrohung jederzeit bereitliegen. (Wir können das etwas nachvollziehen, wenn wir uns vorstellen, dass wir z.B. ein Geräusch vernehmen, das wir nicht zuordnen können. Wir horchen erst einmal mit Schrecken auf.)
Durch die Erfahrung der liebevollen Zuwendung lernen die Kleinen sich selbst kennen und in sich und ihre allmählich wachsenden Fähigkeiten vertrauen.

Für die primäre Bindungsperson bedeutet der Aufbau einer feinfühligen Beziehung mit anfangs kontinuierlicher Verfügbarkeit, in der sie achtsam die Signale des Kindes wahrnehmen kann, um sie möglichst angemessen und prompt zu beantworten, ebenfalls ein Lernprozess. Dies braucht viel gemeinsame Zeit und die Bereitschaft, sich auf das Kind einzulassen. Für diese Ein- und Umstellung hat anfangs in erster Linie die Mutter eine biologische und emotionale Hilfe durch die hormonelle Umstellung infolge Schwangerschaft, Geburt und Stillen. Andererseits ist auch das Kind schon „von innen her“ mit ihrer Stimme, ihrem Geschmack/Geruch und ihre Rhythmen (Herzschlag, Atem etc.) vertraut. Auch bei Vätern können hormonelle Veränderungen festgestellt werden, wenn sie sich entsprechend in eine solche Beziehung einlassen.

Unangemessene Trennungen bedeuten existenzielle Bedrohung und Verlassenheit für das kleine Kind, das noch in einer seelischen Einheit mit seiner primären Bindungsperson lebt, aus welcher es sich erst allmählich herauslöst. Es erlebt sich sozusagen nur vollständig und als Ganzes mit derselben. Bei Trennung kann es noch nicht auf eine Linderung der Not vertrauen, da es noch keine verinnerlichte Sicherheit oder Stimme hat, mit der es sich selbst beruhigen oder trösten kann. Diese innere Sicherheit entwickeln Kinder erst durch das Vorbild der Bezugsperson, deren Trost und Zuwendung sie dann allmählich verinnerlichen und sich zu eigenen machen können. Darüber hinaus verfügt ein kleines Kind über kein ausreichendes Zeitgefühl, das ihm verhilft, Aufschub zu leisten bis sein Bindungsbedürfnis gestillt ist. So ist es in seiner Not existenziellen Ängsten und massivem Stress ausgeliefert.
Dasselbe gilt auch, wenn Grundbedürfnisse nicht zeitnah erkannt und gestillt werden – was leicht passiert, wenn z.B. in der Krippe der Personalschlüssel nicht ausreichend ist, oder die sehr individuellen Signale des Kindes nicht verstanden werden. Wenn wir Durst haben, können wir uns beruhigen, indem wir uns sagen, kein Problem, in 15 Minuten ist Mittagspause – das kann ein Kleinkind noch nicht, dementsprechend existentiell ist seine innere Not.

Die Primärbindung stabilisiert sich im 2. und 3. Lebensjahr.
In dieser Phase können Kinder (das ist jedoch individuell sehr verschieden!) neben den Eltern mit wenigen anderen sekundären Bindungspersonen Beziehungen eingehen.
Dabei sind diese hierarchisch geordnet. Die Bindungspersonen haben also eine bestimmte Rangordnung in der Bedeutung für das Kind. Bei der wichtigsten Bindungsperson (naturgemäß die Mutter) fühlt es sich am sichersten und lässt sich am besten von ihr beruhigen. Auch wenn es noch mehrere vertraute Menschen im Umfeld eines kleinen Kindes geben kann, können sehr wenige Kinder mehr als drei oder vier Sicherheit gebende, vertrauensvolle Bindungsbeziehungen eingehen, ohne dass die Bindungssicherheit gefährdet wird (siehe auch Kapitel 6 Ergebnisse der Bindungsforschung).

Auch das vertraute häusliche Umfeld ist die ersten 2 bis 3 Jahre nicht zu unterschätzen, damit das kleine Kind sich sicher und geborgen fühlen kann.

Sicherheit im Außen kann allmählich verinnerlicht werden zu innerer Sicherheit
.

Je besser kleine Kinder ihre Bedürfnisse nach sicherer Bindung nicht nur im ersten, sondern auch im 2. und 3. Lebensjahr – in den emotional oft besonders schwierigen Phasen der Selbsterfahrung und Autonomie-Entwicklung –  befriedigen dürfen, desto selbstbewusster und interessierter wollen sie selbst allmählich ihren Lebensraum erweitern und weitere Beziehungen eingehen.

Je abhängiger Kinder in den ersten Lebensjahren sein dürfen, desto selbstbewusster und unabhängiger können und wollen sie später werden.

Solche Kinder haben gute Voraussetzungen, Ihre Persönlichkeit zu entfalten, ihre Begabungen bestmöglich zu nutzen und Interesse an der Welt und anderen Menschen zu entwickeln. Daher gilt in der Psychologie und Neurobiologie: Bindung vor Bildung

Die Basis von späterer „Sozialkompetenz“ sind in den ersten drei Lebensjahren duale Beziehungen zu wenigen, zuverlässigen und emotional reifen, einfühlsamen Bindungspersonen. Denn Kinder lernen daran, wie sie behandelt werden, sich selbst und andere behandeln.
So werden vor allem in den ersten 3 Jahren die Grundlagen geschaffen für eine gesunde emotionale, körperliche, soziale und kognitive Entwicklung.

In dieser Zeit entscheidet sich, ob ein Kind mit Grundgefühlen von Sicherheit, Geborgenheit und Verlässlichkeit (auch Urvertrauen genannt) oder aber mit Grundgefühlen von Unsicherheit, Selbstzweifeln und Angstbereitschaft ins Leben geht. Diese emotionale Grundstruktur prägt die spontane Erlebensweise und Grundhaltung in seinem späteren Leben.

Ab ca. 3-4 Jahren – auch das ist individuell verschieden – können sie soweit stabilisiert sein, dass sie von einer guten Fremd- und Gruppenbetreuung profitieren können. Ab diesem Alter gewinnt die eigenständige Beziehung zu anderen Kindern immer mehr an Bedeutung.

Die Eltern sind naturgemäß die Personen, welche schon durch biologische Verankerung dem Kind am nächsten stehen und als primäre Bindungspersonen das Kind durch die ganze Kindheit und Jugend begleiten. In der Familie kann daher am besten Verlässlichkeit erfahren werden. Gerade in den ersten Lebensjahren wird die Basis gelegt für eine auch noch später tragfähige Beziehung, wobei Beziehung und Erziehung in engem Zusammenhang stehen.

Nun haben sich die Zeiten und sozialen Umstände, auch die Rollen von Frau und Mann grundlegend geändert; die Kinder mit ihren Grundbedürfnissen jedoch nicht.

In langjähriger klinischer Erfahrung und Forschung der tiefenpsychologischen und analytischen Psychotherapie sind frühe Trennungen und Entbehrungen, besonders in den ersten 3 Lebensjahren bekannt als Ursache für tiefgreifende psychische Störungen im Leben eines Menschen.
Bereits im Dezember 2007 nahmen die Psychoanalytiker der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) Stellung zu diesem Thema. Der sehr empfehlenswerte Beitrag ist im Internet auffindbar unter: Memorandum Krippenausbau DPV 12.12.2007Darin wird beispielsweise betont:

„Es ist Forschungs- und Erfahrungswissen (und keine Ideologie), dass für die Entwicklung des kindlichen Sicherheitsgefühls, für die Entfaltung seiner Persönlichkeit und für die seelische Gesundheit eine verlässliche Beziehung zu den Eltern am förderlichsten ist. Gerade in den ersten drei Lebensjahren ist die emotionale und zeitliche Verfügbarkeit von Mutter und Vater dafür von großer Bedeutung. (…)
Allgemein gilt:
Je jünger das Kind,
je geringer sein Sprach- und Zeitverständnis,
je kürzer die Eingewöhnungszeit in Begleitung der Eltern,
je länger der tägliche Aufenthalt in der Krippe,
je größer die Krippengruppe
je wechselhafter die Betreuungen,
umso ernsthafter ist die mögliche Gefährdung seiner psychischen Gesundheit.“

Abschließend sagen die Psychoanalytiker: „Die Gestaltung von Bindungen und die Bewältigung von Trennungen sind lebenslang die schwierigsten seelischen Aufgaben des Menschen. Sie erfordern gerade am Lebensbeginn von allen verantwortlich Beteiligten hohe Sensibilität und ein Wissen um die Verletzlichkeit der frühen Entwicklung“.

Aus meiner psychotherapeutischen Erfahrung

Fremd- und Gruppenbetreuung bedeutet für Kinder unter 3 Jahren (je jünger sie sind und je länger die tägliche Betreuung, desto mehr) im Allgemeinen neben den schmerzhaften Trennungserfahrungen von den primären Bezugspersonen, Stress durch die Gruppensituation. Häufig sind die Folgen beim Kind nicht gleich offensichtlich, denn sie zeigen sich meist erst viel später im Leben in psychischen und sozialen Problemen.
Die Kinder ruhen nach meiner Erfahrung in der Regel weniger in sich selbst, haben langfristig ein schlechteres Selbstwertgefühl und können vermehrt zu emotionalen und Verhaltensauffälligkeiten neigen.

Wie können Eltern merken, dass es ihrem Kind in der Fremdbetreuung nicht gut geht?
Bei kleinen Kindern können es nach meiner Erfahrung Verhaltensauffälligkeiten sein wie Trennungsängste, Desorientierung oder Bindungsunsicherheit. Letztere kann sich dann auch darin äußern, dass manchmal solche Kinder wenig zwischen vertrauten oder nicht vertrauten Personen unterscheiden können (was teilweise als selbstbewusst missverstanden wird). Manche Kinder werden unruhig und sind z.B. ständig in Bewegung. Manche reagieren mit Schlaf- oder Essstörungen. Auch können sie leicht irritierbar und emotional auffällig sein, z.B. aggressiv, laut, verweigernd oder aber stimmungsmäßig gedrückt, still, zurückgezogen und insgesamt weniger aktiv. Viele Kinder zeigen sich besonders angepasst (was oft als angenehm empfunden wird) und zeigen weniger ihre Gefühle, sie ziehen sich emotional zurück. In der Regel werden solche Anzeichen nicht mit der Fremdbetreuung in Zusammenhang gebracht. Oft zeigen sich äußerlich kaum Veränderungen.

In der Krippensituation kann man bei einigen Kindern eine besonders aufmerksame Hab-acht-Stellung mit unruhigem Blick beobachten, wie um jederzeit auf Unvorhergesehenes reagieren zu können. Bei anderen kann man einen stumpfen, nach innen gewendeten Blick wahrnehmen mit insgesamt reduzierter Aktivität. Das Leuchten in den Augen vieler Kinder verschwindet. Manche Kinder stehen verloren herum, andere rennen unruhig hin und her. Solche subtilen Erscheinungen zeigen sich nur dem aufmerksamen Beobachter.
Das natürliche Interesse der Kinder, das Voraussetzung für kindliches Lernen ist und die Kleinen, wenn sie sich sicher gebunden fühlen, motiviert zu erforschen und experimentieren bzw. explorieren, bleibt dabei oft auf der Strecke.

In meinen Therapien habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Kinder, welche unter einem Mangel an einfühlsamer Zuwendung oder unter einer Trennungs-Problematik bzw. unter Verlassenheit leiden, unbewusst den Mangel auf sich beziehen und sich auch langfristig nicht wert fühlen, dass ihnen angemessen Zuwendung oder Verlässlichkeit entgegengebracht wird. Sie fühlen sich selbst schuldig dafür, dass sie verlassen werden bzw. wurden und entwickeln tendenziell ein negatives Selbstbild.

In späteren Therapien von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen weisen Bilder und Träume trostloser Leere, Verlorenheit und Hilflosigkeit, auch bedrohliche Abstürze oder sonstige Situationen mit Vernichtungsängsten auf existentiell bedrohliche seelische Erfahrungen hin. In Verbindung mit frühen Trennungserfahrungen sind sie besonders schwer zugänglich und behandelbar. Menschen mit solchen Erfahrungen haben später häufig Probleme damit, sich selbst oder andere zu lieben. Sie leiden mehr als andere an massiven Selbstzweifeln und unter Beziehungsstörungen. Verständlich wird dies durch das mangelnde Selbstwertgefühl und die an Panik grenzenden Ängste bei Trennung und Verlassenheit. Weitere Folgen sind nicht selten Depressionen, Angst- oder Aggressions-Störungen, ebenso verschiedene Arten von Abhängigkeiten oder Süchten. Oft treten die frühen Wunden sehr viel später zutage: bei ursprünglich angepassten Kleinkindern häufig im Schul- oder Jugendalter, teilweise auch erst im Erwachsenenalter.

Eltern eines 18-Monate alten Kindes klagten über Schlaf- und Essstörungen, verbunden mit Schreiattacken, die sie so in der Zeit vor der Kita nicht gekannt hatten. Bei anderen Kleinkindern in meiner Praxis werden vermehrt heftige Trotzanfälle oder insgesamt verstärkt verweigerndes Verhalten festgestellt. Manche der Kleinen werden auch weinerlich und ziehen sich mehr zurück, was jedoch andrerseits gelegentliche, massive Trotzanfälle nicht ausschließen muss. Wenn Kinder bei der Übergabe zu oder von der Kita sich wehren oder weinen, sollte das ernst genommen werden! Es gibt Kinder, welche als Reaktion insgesamt verstärkt an Mutter/ Vater (primärer Bindungsperson) klammern oder aber die Bindung zu dieser insgesamt schwächer wird, sodass sie z.B. weniger auf sie bezogen sind. Ich kenne Mütter, die dann unter dem Eindruck leiden, ihr Kind möge sie nicht (mehr). Dies und ähnliches belastet das ohnehin sehr empfindsame Bindungs- und Beziehungs-Gefüge zwischen Eltern und Kind.

Die Kleinen wenden sich, da die erwachsenen Bindungspersonen weniger zur Verfügung stehen, mehr den Gleichaltrigen zu, was häufig als Bestätigung von „Kinder brauchen Kinder“ verstanden wird. Wenn jedoch durch die Fremdbetreuung die sichere Basis in der Familie teilweise verlorengeht, wenden sich die Kinder schon verfrüht den Gleichaltrigen zu. Umso mehr sind sie diesen eher wechselhaften, unreifen Beziehungen ausgeliefert. Besonders erlebe ich diese Problematik bei Schulkindern, die dann massiv unter Konflikten und Ausgrenzungen in der Peergroup leiden. Verstärkt tritt sie bei ca. 10-Jährigen auf, welche bis dahin oft recht angepasst waren. Unter dem sozialen Leidensdruck wenden sie sich häufig wieder verstärkt ihren Eltern zu. Manche bleiben in der Regression und im sozialen Rückzug stecken. Da zu dieser Zeit eigentlich eine naturgemäße weitere Ablösung von den Eltern ansteht, sehen solche Beziehungen sehr ambivalent aus: zwischen anklammern an die Eltern, meist die Mutter, und heftigen Vorwürfen, Entwertungen bzw. aggressiven Durchbrüchen, was nicht selten zu Eskalationen zwischen Eltern und Kind führt. Die Problematik wird dadurch weiter vertieft und beide sind verzweifelt. Manchmal suchen sie therapeutische Hilfe auf.

Zurück zu den Kleinen:
In den Eltern-Kind-Therapien hat meistens ein vertieftes Verständnis für die Bindungsbedürfnisse des Kindes zu mehr Einfühlung verholfen. Dabei hatte die gängige Meinung von „frühkindlicher Förderung in Kitas“ und dem gesellschaftlichen Druck von baldigem Berufseinstieg ein unvoreingenommenes Empfinden in vielen Fällen gestört.
Die Eltern können in der gemeinsamen therapeutischen Arbeit eine bessere Wahrnehmung für sich selbst und für ihr Kind gewinnen und mehr Freude an und mit ihm. Sie können auch teilweise zu nicht erfüllten Bindungsbedürfnissen in ihrer eigenen Kindheit Zugang bekommen. Das kann erst einmal sehr schmerzhaft sein, dann aber umso mehr heilsame Nähe zum eigenen Kind ermöglichen. Auch im Falle des oben erwähnten, 18 Monate alten Kindes kamen die Eltern zu der Einsicht, die Fremdbetreuung für geraume Zeit aufzuheben, was zum Rückgang der Symptomatik und zu einer für beide Seiten befriedigenderen Eltern-Kind-Beziehung führte. Bei anderen konnte auch die Reduktion der täglichen Kita-Zeit oder/und die Einführung eines Pausentages helfen.

Kinder reagieren individuell verschieden auf Fremdbetreuung. Mehrere Faktoren können dabei eine Rolle spielen, wie z.B. die bereits bestehende Bindungssicherheit zur primären Beziehungsperson oder/und auch unterschiedliche genetische Dispositionen.
In manchen Fällen signalisiert ein Kind, es gehe gerne in die Kita. Das kann der Fall sein, wenn das Kind eine sehr gute sekundäre Bindungsbeziehung zu einer Erzieherin aufbauen konnte. Das wiederum setzt eine ausreichende Eingewöhnungszeit, eine geeignete BezugsbetreuerIn, Kontinuität in dieser Beziehung, eine kleine Gruppengröße, wenige Kinder pro BetreuerIn und eine gute pädagogische Qualität in ruhiger Atmosphäre in einem kindgerechten Umfeld voraus (siehe Kapitel 6). Diese Umstände sind leider sehr selten (siehe Kapitel 8 „Zur Realität in heutigen Kitas“). Außerdem ist die Betreuungsdauer pro Tag und das Alter des Kindes bedeutsam. Dazu noch mehr in den nächsten beiden Kapiteln.
Es kann auch sein, dass ein Kind mit der Zeit lediglich die Gewohnheit, in die Kita zu gehen akzeptiert. Kinder passen sich an. Manchmal ist es Resignation. Nicht jedes Kind weint und wehrt sich, auch wenn es innerlich leidet.

Ergebnisse der Bindungsforschung

Aufgaben des Bindungssystems

  • Regulation von Stress und Affektbelastung
  • Vermittlung von Geborgenheit und psychischer Sicherheit
  • Bildung des biologischen Regulationssystems (Aufmerksamkeit-Entspannung bzw. Cortisol/Oxytocin-Regulation) (Böhm (13))

Forderungen der Bindungsforschung

Sicher gebundene Kinder fühlen sich geborgen und angenommen in der Beziehung zu ihrer Hauptbindungsperson (mit wenigen weiteren Bezugspersonen). Da dies in den meisten Fällen die Mutter ist (jedoch ist auch der Vater oder evtl. eine andere Person möglich), spreche ich im Folgenden der Einfachheit halber meist von der Mutter.

Von dieser Hauptbezugsperson brauchen sie vor allem:

  • Liebevolle Zuwendung und Einfühlung körperlich und seelisch: denn das Kind erfährt sich selbst erst richtig im teilnehmenden Blick von Mutter/Vater. Sie wissen, wie oft kleine Kinder Kontakt aufnehmen und ständig in Beziehung sind. Das ist für Menschen in der heutigen Zeit oft ungewohnt und anstrengend. Es ist, als ob nach der Ablösung der leiblichen Nabelschnur die seelische noch lange weiterbestünde.
  • Trost und Hilfe bei der Verdauung und Verarbeitung körperlicher und seelischer Vorgänge wie: trösten, in den Arm nehmen, streicheln, mitfühlen, beruhigen bei Emotionen wie Wut, Ärger, Überreizung etc. Mit solcher emotionaler Verarbeitungs- und Integrationshilfe können die Kinder lernen, schwierige Situationen und Gefühle auszuhalten, zu verarbeiten und später zunehmend selbst entsprechend zu regulieren.
    Übrigens: Je sicherer sich ein Kind fühlt, desto mehr zeigt es seine Gefühle – auch die negativen. Deshalb sind Mutter/Vater meist besonders gefordert.
  • Kontinuität in der Beziehung zu einer Haupt-Bindungsperson, welche verlässlich und nahezu durchgängig verfügbar ist, wird vom Kind allmählich verinnerlicht zu Sicherheit, Stabilität und Kontinuität seiner Persönlichkeit. Die sensibelste Zeit für eine sich entwickelnde, sichere Gebundenheit ist das erste Lebensjahr mit weitgehender Beschränkung auf die primäre Bindungsperson, naturgemäß der Mutter. Im 2. und 3. Lebensjahr vertieft und stabilisiert sie sich. Dabei ist das Kind weiterhin auf die weitgehende Verfügbarkeit seiner primären Bindungsperson angewiesen, damit eine gesunde Identitäts- und Autonomieentwicklung ermöglicht wird. In dieser Zeit ist die Möglichkeit, weitere Bindungsbeziehungen einzugehen, auf wenige Personen beschränkt.
  • Aus der verinnerlichten Sicherheit heraus kann und will sich das Kind immer mehr auf andere Menschen zu bewegen und entwickelt zunehmend Interesse an der Umgebung. Dabei braucht das Kind ein entsprechend kinderfreundliches Umfeld und emotionale Unterstützung. Für Exploration und Selbstwirksamkeit braucht es weiterhin die Möglichkeit, die primäre Bindungsperson als sichere Basis zu haben, um bei ihr immer wieder „aufzutanken“ und sich „rückzuversichern“, dass sie noch da ist als Sicherheit bietender Rückhalt. Mit der Zeit kann es sich auf natürliche Weise immer besser und länger selbst beschäftigen und zu gegebener Zeit können Abwesenheiten von Mutter/Vater immer besser und länger toleriert werden.
  • Während dieser ersten 2-3 Jahre kommen weitere vertraute Personen hinzu. Natürlicherweise sind es in der Familie Vater/Mutter, Geschwister, evtl. Großeltern, evtl. BabysitterIn. Entscheidend neben den Bezugspersonen sind auch das
    vertraute Umfeld und ein gesunder, regelmäßiger und zuverlässiger Tagesablauf.
  • Auch Reizschutz ist von großer Bedeutung, da kleine Kinder in ihrer Wahrnehmung noch nicht selektieren, gezielt ausblenden und/oder zuordnen können, sondern buchstäblich alles in sich aufnehmen.
    Die vielen Eindrücke (je größer beispielsweise die Gruppe in der Kita, desto mehr) können dann nicht ausreichend verarbeitet werden und führen zu Desorientierung, Stress, emotionaler Belastung, Unruhe, Nervosität und Konzentrationsstörungen. Bei Kindern, die zu vielen Reizen ausgesetzt sind besteht die Gefahr, dass sie später immer nach mehr Reizen verlangen – bei innerer Leere (Gefahren wie ADHS oder Depressionen).
  • Vertraut werden des Kindes mit einer sekundären Bindungsperson muss sehr sorgfältig im Beisein der Hauptbindungsperson angebahnt und ausreichend lange aufgebaut werden. Die neue Bindungsperson (sei sie aus dem familiären Umfeld oder außerhalb) sollte ebenfalls einfühlsam auf das Kind eingehen und im obigen Sinne körperliche und emotionale Verarbeitungshilfe geben können. Die Mutter sollte sich erst dann probeweise über einige Zeit zurückziehen, wenn sich das Kind im Beisein (!) der Mutter von der Betreuerin trösten lässt. Die Zeiten der Abwesenheit sollen erst dann langsam und stufenweise verlängert werden. Das kann insgesamt Monate dauern. Betreuungswechsel sollten vermieden werden (nach Bindungsforscher
    Karl-Heinz Brisch (19)).
  • Kleinkinder können nur dann stressfrei fremd betreut werden, wenn sie zu der sekundären Bindungsperson ein sehr enges Verhältnis aufbauen können. Gelinge dies nicht, so der britische Wissenschaftler Richard Bowlby (20), so werde die Fremdbetreuung zum Risikofaktor für spätere psychische Probleme und asoziales Verhalten. Der Stress werde dabei nicht immer für jeden sichtbar. Einige geschädigte Kinder verhielten sich äußerlich unauffällig, viele würden deshalb als unproblematisch eingestuft werden – obwohl die Trennung für sie eben doch ein gewaltiges Problem sei.

Ein sicher gebundenes Kind hat als Basis innere Ruhe und Vertrauen, eben Urvertrauen, was später in dieser Tiefe nicht mehr nachgeholt werden kann.
Es hat die Voraussetzungen dafür, eine gute Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen aufzubauen und Interesse an der Welt zu entwickeln. Ein solches Kind konnte/kann Selbstvertrauen entwickeln.

Eine sichere Bindung ist die Voraussetzung für eine dem Kind gemäße gesunde körperliche, seelische und geistige Entwicklung.

Daher auch das Schlagwort aus der Bindungsforschung: Bindung vor Bildung

Qualitätsanforderungen Kita U3

Dr. Joachim Bensel (21), Verhaltensbiologe und Entwicklungsforscher vom Forschungsinstitut Verhaltensbiologie des Menschen stellt u.a. folgende Merkmale für eine gute Qualität der Interaktionen zwischen ErzieherInnen und Kind vor:

  • Kontinuität in der Beziehung zur Bezugsperson (möglichst keine Betreuerwechsel)
  • Das Anbieten von Geborgenheit und Sicherheit (Bindung) durch feinfühliges, empathisch-zugewandtes (responsives) und promptes Beantworten kindlicher Signale
  • Eine achtsame und respektvolle Haltung gegenüber dem Kind
  • Beziehungsvolle Pflege in Alltagssituationen und sprachbegleitendes Handeln
  • Bereitstellung einer sicheren und gesundheitsfördernden Umgebung und eines altersangepassten Tagesrhythmus
  • Betreuerschlüssel: 1:2,6 (Betreuer zu Kind) reine Zeit mit dem Kind ohne jegliche Fehlzeiten wie Krankheit, Urlaub, Fortbildung, Vorbereitung, Teambesprechungen…
  • Gruppengröße bis zu 8 Kinder (das heißt höchstens 8 Kinder unter 3 Jahren werden von mindesten 3 ErzieherInnen betreut)
  • Qualität durch einen ständigen Weiterentwicklungsprozess der ErzieherInnen, der durch Innen- und Außenblick, wie Intervision und Supervision, überprüft werden muss

Auch die Entwicklungspsychologin Liselotte Ahnert (Ahnert 2004)
empfiehlt für Kinder unter 3 Jahren einen Betreuungsschlüssel von 1:3, besser 1:2 (Betreuer zu Kind), ebenso der Bindungsforscher Karl-Heinz Brisch (19), wie auch die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (2008), die Deutsche Liga für das Kind (2008), Deutschsprachige Gesellschaft für seelische Gesundheit und viele mehr.

Nach mehreren Studien und nach Rainer Böhm (7) ist eine gute Qualität der Krippen überhaupt erst ab 2 bis 3 Jahren wirksam.
Davor empfiehlt Böhm keine Kita-Betreuung (und danach nur in sehr guter Qualität).
Denn früher kann selbst eine sehr gute Qualität kaum die Nachteile der Fremd- und Gruppenbetreuung ausgleichen (siehe auch Ergebnisse aus der Hirnforschung, Kapitel 3).

Des Weiteren empfiehlt er, dass elterliche Betreuung die ersten 3 Jahre gezielt unterstützt und gefördert werden soll, die Dauer der Betreuung reduziert und die Qualität verbessert werden soll.

(Siehe auch: Bielefelder Empfehlungen, unter www.fachportal-bildung-und-seelische-gesundheit.de)

Selbst bei einem sehr guten Betreuungsschlüssel und guter Betreuungsqualität als Voraussetzung für eine gute sekundäre Bindung zur BezugsbetreuerIn bleibt es dennoch fraglich, ob eine ausreichend tiefe Bindung in Kitas aufgebaut und aufrecht erhalten werden kann. Denn es ist zu bedenken, dass beispielsweise während des Urlaubs, während Vorbereitungs- und Bürozeiten, während Krankheitszeiten und aufgrund der langen Öffnungszeiten der Kitas (10 Stunden oder meist mehr) Unterbrechungen in der Beziehung zur BezugsbetreuerIn entstehen. Selbst während ihrer Anwesenheit verbringt sie Zeiten außerhalb des Raumes und ist nicht verfügbar: weil sie beispielsweise ein anderes Bezugskind zum Schlafen legt oder wickelt oder aufgrund von Vorbereitung, Dokumentation, Teamabsprache u.a.
Diese Umstände führen zwangsläufig zu häufigen Betreuerwechseln.

Steve Biddulph (12) meint zu diesem Thema:
„Einer der Gesichtspunkte, der (in der NICHD–Studie) diskutiert wurde, vielleicht sogar der Hauptaspekt, war die Qualität der Betreuung. Man glaubte, wenn die Betreuung gut genug ist – wie angemessen ausgebildetes Personal, eine solide Einrichtung, ein guter Betreuungsschlussel –, könnte dies die Entwicklung der Probleme verhindern. Das Erstaunliche war, dass selbst unter günstigsten Gruppenfremdbetreuungs-Bedingungen die Risiken kaum gemindert wurden. Selbst bei bester Qualität der Fremdbetreuung konnte man nachteilige Charakterveränderungen bei den Kindern nachweisen. Ein weiterer Grund zur Besorgnis war das Ergebnis, dass Kinder, die zu lange und ab einem zu jungen Alter in Gruppenfremdbetreuung gewesen waren, geschwächte Bindungen zu ihren Bezugspersonen (zu Mutter oder Vater zuhause) hatten.

Starke Aggressivität und geschwächte Bindungen kann man in den Studien verschiedener Länder immer wieder beobachten. Es handelt sich nicht unbedingt um riesige und absolute Veränderungen bei den Kindern, doch sie sind maßgebliche und ernst zu nehmende Risikofaktoren (…)

Es ist stets wichtig, mit gesundem Menschenverstand an Forschung heranzugehen und immer zu hinterfragen: Warum verhalten sich gewisse Dinge in einer bestimmten Weise? Stimmen diese Ergebnisse mit dem überein, wie sich Kinder naturgemäß entwickeln und aufwachsen? Grundsätzlich bleibt festzuhalten: Wenn sich ein Kind in Gruppenfremdbetreuung befindet – so ist es einem auffälligen und unvermeidbaren Umstand ausgesetzt: dort ist es laut, und es herrscht andauernde Bewegung. Hinzu kommt, dass die Betreuerinnen ihre Aufmerksamkeit auf viele Kinder aufteilen müssen. Studien über die Interaktionen zwischen Müttern und ihrem Kind zeigen, dass ein Kind einige Hunderte Male am Tag visuell zur Mutter Kontakt aufnimmt, es schaut, ob sie es bemerkt und reagiert, und die Mutter schaut zurück, lächelt und reagiert (…). Wenn man dieses Verhalten in einer Kindertagesstätte studiert, dann stellt man fest, dass selbst das allerbeste Betreuungspersonal mindestens zwei Drittel aller Kinderkontaktsignale verpasst. Die Kinder geben ein „Suchsignal“, sie versuchen Kontakt herzustellen – doch es bleibt unbemerkt und unbeantwortet. Das ist überhaupt kein Vergleich zu der Intensität und Subtilität der familiären Interaktion.“

Zur Realität in den heutigen Kitas U3

In der groß angelegten NUBBEK-Studie (Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit) (22) wurden Kitas U3 auf die obengenannten und auf weitere Qualitätsmerkmale hin untersucht. Das Ergebnis wurde 2012 veröffentlicht. Die Untersuchung fand also bereits statt vor dem rechtlichen Anspruch auf einen Kita-Platz im August 2013. Das Ergebnis war, dass nur 3,2% (also etwa 3 von100!) der Kitas den geforderten Qualitätsanforderungen entsprachen und somit eine gute bis sehr gute Qualität nachweisen konnten (22,23). Orientiert man sich an den oben genannten Qualitätsanforderungen vor R. Böhm, sind es noch weniger. Eine Studie von 2019 des Deutschen Kita-Leitungs-Kongresses (DKLK) kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Sie spricht von alarmierenden Zuständen für die ErzieherInnen wie für die Kinder. Siehe hierzu Ergebnisse der DKLK-Studie 2019 zur Qualität in Kitas.

Fabienne Becker-Stoll, Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München, schrieb 2016 (24), dass im Rahmen einer ihrer Studien über Interaktion zwischen Kindern und Erzieherinnen in Kitas U3 festgestellt wurde, dass manche Kinder in einer Woche kein einziges Mal direkt angesprochen wurden (Begrüßung und Verabschiedung mitgezählt).
Weiter bemerkt sie, dass Eltern Einrichtungen und Erziehern im Allgemeinen einen enorm hohen Vertrauensvorschuss gewähren. Sie glauben an „frühkindliche Förderung“ und können wenig hinter die Kulissen schauen.
Es fehlt ihnen auch oft am Wissen um die entscheidenden Kriterien für eine gute Kinderbetreuung.

Typische Schwachpunkte derzeitiger Krippen sind folgende:

  • Zu große Gruppen. Meist sind es 10 bis 12 Kinder, teilweise auch mehr, einschließlich Säuglingen.
    Die Auswirkungen auf das Stresssystem durch die Gruppensituation mit den vielfältigen Eindrücken und der Lautstärke wurden in früheren Kapiteln beschrieben. Außerdem kommt Stress durch Desorientierung hinzu, besonders wenn z.B. das Kind seine BezugsbetreuerIn braucht und nicht findet. Verschärft wird dieser Aspekt bei den „offenen Gruppen“. Da beträgt die Gesamtzahl oft 40 oder 45 Kinder in verschiedenen offenen Räumen bei entsprechend vielen verschiedenen und wechselnden Betreuern.Noch einige Gedanken zum häufig zitierten Argument:
    Kinder brauchen Kinder“:
    Spielzeiten und Begegnungen mit anderen Kindern können auch bei unter 3-Jährigen erfüllende und bereichernde soziale Erfahrungen sein. Es können sich auch schon deutliche Sympathien entwickeln und kleine Freundschaften entstehen. Die wachsame und liebevolle Begleitung einer vertrauten Bindungsperson ist als sicherer Rückhalt für das kleine Kind dabei noch wichtig. Wenn dagegen die Kleinen weitgehend auf sich selbst gestellt sind in der gegenseitigen Begegnung mit ihren unreifen Emotionen und Bedürfnissen, wie das in der Kita der Fall ist, bedeutet das für sie Stress. Sie haben jeweils noch kein Gefühl dafür, was es für ein anderes Kind bedeutet, wenn sie es z.B. an den Haaren ziehen, umstoßen oder ihm etwas wegnehmen.
    Erst mit ca. 3-4 Jahren ist es möglich, über ein entsprechendes Einfühlungsvermögen zu verfügen. In diesem Alter kommen sie ins sogenannte „Spielalter“ und eigenständige Beziehungen zu anderen Kindern werden immer wichtiger.Von wesentlicher Bedeutung ist während der ersten 3 Jahre – und je kleiner die Kinder sind, desto mehr – die duale Beziehung zur Bindungsperson. Mit ihr können sie emotionale Stabilisierung erfahren und die Grundlagen eines guten sozialen Umgangs. Angemessene Spielsituationen für die Kleinen sind daher beispielweise kleine Eltern-Kind-Gruppen, oder Treffen im kleinen privaten Rahmen. Das sind ganz andere Situationen als die übliche, wechselhafte Krippen-Gruppensituation, wo die Kinder über einige Stunden oder gar den ganzen Tag mit einer Fülle von Eindrücken konfrontiert und dabei weitgehend sich selbst überlassen sind. Für die Verarbeitung der vielen Eindrücke und die Behauptung in der Gruppe sind sie noch nicht reif. Wie sich in den vorigen Kapiteln in vielen Untersuchungen und Forschungen darstellt, entstehen durch die Krippenbetreuung daher Stress, Überforderung und tendenziell langfristige Schwächen im Sozialverhalten.
    Außerdem: wenn Kinder aus Mangel an verlässlich verfügbaren erwachsenen Bindungspersonen sich schon früh und verstärkt Kindern zuwenden und sich an ihnen orientieren, geht die Orientierung am Erwachsenen verloren, sodass sie nur noch schwer zu führen und zu erziehen sind.
  • Zu kurze Eingewöhnungszeit: Kaum eine Arbeitsstelle des eingewöhnenden Elternteiles und kaum eine Kita kann schon aus organisatorischen Gründen eine Eingewöhnungszeit im Beisein der Mutter von mehreren Wochen oder gar Monaten gewähren, wenn es das Kind brauchen sollte, um eine stabile sekundäre Bindungsbeziehung aufzubauen (siehe Kapitel 6 unter „vertraut werden“).
    Im Schnitt werden ca. 2 Wochen genutzt (Berliner Modell: 2 – 4 Wochen).
  • Zu viele Kinder pro BetreuerIn (Personal-/Betreuerschlüssel).
    Selbst eine Mutter beispielsweise mit Zwillingen und einem weiteren Kind zwischen 0 und 3 Jahren ist meist überfordert, die Bedürfnisse ihrer Kleinen angemessen zu befriedigen und braucht Unterstützung.
    In Baden-Württemberg wird ein relativ guter offizieller Personalschlüssel von 1:3 laut Bertelsmann-Studie angegeben. Fakt ist jedoch, dass 1:4 angestrebt wird, d.h. dass die Realität meist darunter liegt. ErzieherInnen klagen über Stress und sind häufig krank. Im offiziellen Personalschlüssel werden die Fehlzeiten nicht eingerechnet, die beispielsweise für Krankheit, Urlaub, Fort- und Weiterbildung (das sind im Schnitt mind.15% der Arbeitszeit) und für indirekt pädagogische Arbeitszeiten wie Organisation, Vor- und Nachbereitung, Dokumentation, Eltern- und Teambesprechungen und pädagogische Reflexionsarbeit (mind. 25%) von der Betreuungszeit mit dem Kind abgehen. Daher muss streng unterschieden werden zwischen Personal- und Betreuerschlüssel (tatsächliche Zeit mit den Kindern). So werden aus einem offiziellen Personalschlüssel von 1:3 ein tatsächlicher Betreuungsschlüssel von mindestens 1:5, einem offiziellen von 1:4 ein tatsächlicher von 1:7. Eine Betreuerin hat dann also 7 oder mehr Kinder unter 3 Jahren zu betreuen. Hinzu kommt noch der Betreuerwechsel. Häufig sieht das Verhältnis auch im „Musterland“ Baden-Württemberg noch viel schlechter aus, weil es nicht genügend ErzieherInnen gibt. Selbst eine menschlich und fachlich sehr gute BetreuerIn ist damit überfordert.
    Und die Kinder?
    In München beispielsweise ist der Personalschlüssel sogar 1:6.
    Gleichzeitig wirbt das Jugendamt München bereits im 2.Elternbrief, also im 2. Lebensmonat des Kindes für die Krippenbetreuung und rät, sich spätestens jetzt nach einem Platz umzuschauen. Es wird zwar auch beschrieben, wie wichtig eine intensive, individuelle und gute Vertrauensbeziehung zwischen Kind und Bezugsbetreuerin ist, und dass sich diese in aller Ruhe entwickeln können muss. Dass dies unter diesen Umständen gar nicht möglich ist – das wird nicht erwähnt.
    Es geht aber noch schlimmer: In Berlin ist sogar ein Personalschlüssel in Krippen von 1:8 durchaus üblich.
  • Zu häufiger Betreuerwechsel findet statt aufgrund der vielen o.g. Fehlzeiten, vielen Teilzeitstellen, aufgrund hoher Fluktuation der BetreuerInnen, oder auch aufgrund von Gruppenwechseln der Kinder, z.B. bei altersspezifischen Gruppen. Häufiger Betreuerwechsel findet auch statt aufgrund der langen Öffnungszeiten der Kitas wegen der geforderten Flexibilität der Betreuungszeiten. Sehr viele Kitas haben Öffnungszeiten von 10 oder 14 Stunden und manche bieten sogar 24-Stunden an. Letztere sind sogar zunehmend gefragt. Durch das neue Programm der Bundesregierung „KitaPlus“, sollen weitere dieser 24-Stunden Einrichtungen (einschließlich Öffnungszeiten an Wochenenden und Feiertagen) geschaffen werden, was neben anderem das Thema „häufiger Betreuerwechsel“ (Schichtwechsel auf die Spitze treibt.
  • Schlechte Ausbildung vieler ErzieherInnen. In der Not des rechtlich gesicherten Anspruchs und der Mangelsituation werden sogar immer mehr ungelernte Kräfte eingesetzt. Auf notwendige Weiterbildung – extern und intern – oder auf Supervision wird aus finanziellen Gründen, Personal- und Zeitmangel teilweise ganz verzichtet.
  • Unzufriedenheit und Stress bei den BetreuerInnen:
    Die unangemessenen Arbeitsbelastungen führen zu häufiger Krankheit,
    Nachfrage nach Teilzeitarbeit und hoher Fluktuation. Die Leidtragenden sind dabei jedoch vor allem die Kinder. Denn es ist kaum möglich, eine enge Beziehung zu einer Betreuungsperson aufzubauen und aufrecht zu erhalten, die häufig gar nicht da ist, die schlecht ausgebildet und auch noch überlastet ist. Daraus folgt fast zwangsläufig ein Mangel an Zuwendung und Empathie für die anvertrauten Kinder.
    In vielen persönlichen Gesprächen mit ErzieherInnen im U3-Bereich erfuhr ich vieles, was die Eltern nicht erfahren. Eine 100%-Stelle ist für viele zu anstrengend und zu viel Stress (sogar für die Erwachsenen!). Gerade einfühlsame, d.h. geeignete ErzieherInnen leiden darunter, dass sie den Bedürfnissen der Kleinen nicht gerecht werden können. Es wird auch wahrgenommen, wie sehr viele der Kleinen unter der Trennung von ihren Eltern leiden – was den Eltern in der Regel nicht mitgeteilt wird. Außerdem lassen die vielen Eindrücke und Ablenkungen in der Gruppe die Kleinen kaum zu stiller Beschäftigung und Konzentration finden. Auch aus diesem Kreis höre ich, dass eigentlich frühestens ab 2 Jahren Krippenbetreuung empfohlen wird und höchstens halbtags in einem kleinen, verlässlichen und überschaubaren Rahmen.
    Für die Unzufriedenheit mit ihrer Arbeit sprechen auch die häufigen Streiks der Erzieher in den letzten Jahren und Hunderte von freien Stellen – sogar in Stuttgart, das sich eines guten Betreuungsschlüssels und rühmt. Neben der belastenden Berufssituation mag das auch an der geringen Wertschätzung, verbunden mit schlechter Bezahlung liegen.

Noch ein Wort zur Familiensituation, wenn die Kinder fremdbetreut und die Eltern berufstätig sind. Wie steht es um die Verfassung der Familienmitglieder, wenn möglicherweise beide Eltern voll berufstätig sind, abends gestresst und ruhebedürftig von der Arbeit kommen, das gestresste, womöglich etwas unleidige Kind noch schnell von der Krippe abholen, das nach einem langen Krippentag besondere Geduld und liebevolle Zuwendung bräuchte. Nebenher sollte auch noch der Haushalt besorgt werden! Stress für alle! Und dabei findet das entscheidende Bindungsgeschehen zu Hause statt, wie von allen Seiten bestätigt wird!

Wie beispielweise die NICHD-Studien ergab, verschlechterte sich tendenziell die Eltern-Kind-Interaktion durch Krippenbetreuung.

Auch Prof. S. Biddulph weist in Kapitel 7 auf eine mögliche Beeinträchtigung der Eltern-Kind-Bindung bei Krippenbetreuung hin.
In der Quebec-Studie, siehe unter 2.3.10, wurde nachgewiesen, dass sich das Familienleben durch Krippenbetreuung und verstärkte Arbeitstätigkeit der Eltern sehr zum Negativen hin entwickelte.

Dies spricht nicht für die gerne angeführte „Familienfreundlichkeit“ im Zusammenhang mit dem massiven Krippenausbau.
Insgesamt werden alle für das Kind pauschal propagierten Vorteile durch Krippenbetreuung bei genauer Beschäftigung mit den Hintergründen in Frage gestellt.

Alternativen zu Kita U3

Entscheiden sich die Eltern für eine Fremdbetreuung, kann eine zuverlässige und geeignete Ersatz-Bezugsperson (Kinderfrau), mit welcher das Kind ebenfalls eine gute Bindungsbeziehung aufbauen kann, eine gute Lösung sein. Möglichst findet die Betreuung im familiären, vertrauten Umfeld statt und kann über Jahre bestehen bleiben.
Problematisch ist hier allerdings die fehlende finanzielle Unterstützung dieses Modells durch den Staat. Folglich ist diese Variante derzeit oft nur Familien mit entsprechendem finanziellem Potential möglich.

Das Tagesmütter–Modell, auch Kindertagespflege genannt, wird wie die Kita öffentlich unterstützt und gilt als Alternative zur Kita.
Pro Tagesmutter oder -vater dürfen 5 Kinder unter 3 Jahren betreut werden. Der Betreuerschlüssel ist also meist 1:5. Von Vorteil kann die bessere Kontinuität in der Betreuer-Kind-Beziehung sein, sowie die insgesamt meist kleineren Gruppen. Zu bedenken ist, dass eine Tagesmutter (TM)/Tagesvater (TV) auch eine Ersatzkraft haben muss im Falle von Krankheit oder Urlaub. Häufig tun sich auch zwei TM/TV zusammen, so ergibt sich eine Gruppe bis zu 10 Kindern. Neuerdings können in der Tagespflege auch (Teilzeit-) Betreuer angestellt werden. Großtagesstellen werden gefördert. Daraus ergeben sich in der Tagespflege ähnliche Umstände wie in der Kita/Krippe.

Dieses Modell wird derzeit von öffentlichen Stellen sehr propagiert, da auf diese Weise mit wenig Mitteln Betreuungsplätze bereitgestellt werden können.
Neben einer Sprachprüfung in deutscher Sprache und einem polizeilichen Führungszeugnis bestehen keine weiteren Voraussetzungen zur Eignung dieser Person, außer dass sie, nach ihrer eigenen Aussage, “Freude an Kindern“ haben sollte. Die Ausbildung ist dann nach einem Kurs von wenigen Wochen abgeschlossen.
Für diese Art der Betreuung wird sehr geworben: bei Eltern wie bei Pflegepersonen als neue berufliche Perspektive. (25)
Bemerkenswert dabei ist, dass damit häufig gerade die Menschen angezogen werden, welchen sonst von offizieller Seite die Fähigkeit abgesprochen wird , ihre eigenen Kinder gut zu erziehen und angemessen zu integrieren: Menschen mit Migrationshintergrund (mehr als 30% der Tagesmütter/-väter in BaWü) oder z. B. Langzeitarbeitslose. Hier möchte ich betonen, dass ich diese pauschale Verurteilung nicht teile.
Kindertagespflege sollte sehr kritisch geprüft werden!
Es kommt neben dem Alter des Kindes, der Dauer der Betreuung, der Anzahl der betreuten Kinder, einem geeigneten Umfeld und der pädagogischen Ausrichtung entscheidend darauf an, wie weit Tagesmutter/Vater die oben genannten Merkmale einer guten Bindungsperson tatsächlich erfüllen kann – wobei sie bei 5 kleinen Kindern schon von den Umständen her überfordert ist.
Man stelle sich nur vor, dass sie 3 oder 4 von den fünfen noch wickeln und füttern muss, alle individuell zu Bett bringen sollte, darauf achten, dass sich keines in Gefahr bringt oder einem anderen Kind wehtut, dass sie die Kinder, um ins Freie zu gehen, an- und wieder auskleiden muss. Neben all dem sollte sie noch individuell und feinfühlig auf jedes Kind und seine Bedürfnisse eingehen und seine Beziehungs-Signale wahrnehmen. Sie sollte es auch unbedingt bemerken, wenn sich eines der Kinder still zurückzieht und Zuwendung braucht oder Trost, wenn es weint, um nur einiges zu nennen.
Dasselbe trifft besonders auch auf Großtagespflegestellen oder Kitas zu, nur dass da insgesamt noch mehr Personen vorhanden sind, allerdings verbunden mit Betreuerwechseln.

Als Alternative wird manchmal noch die Aupair-Lösung erwogen.
Von Vorteil ist das vertraute familiäre Umfeld. Von großem Nachteil sind die häufigen Beziehungs-Wechsel, da die Aufenthaltsdauer höchstens ein Jahr, oft sogar nur ein halbes beträgt. Und diese jungen Menschen haben oft keine Erfahrung im Umgang mit kleinen Kindern.

Betreuungspersonen aus der Familie, wie z.B. die Großeltern, können, ähnlich wie die Eltern, eine große emotionale Nähe zum Kind aufbauen, sich individuell auf das einzelne Kind einstellen und es über viele Jahre begleiten. Kontinuität, Verlässlichkeit und liebevolle Zuwendung kann so auch von anderen geeigneten Menschen aus der Familie oder evtl. dem Freundeskreis möglich sein.
Wichtig ist dabei, dass die Eltern und die Betreuungspersonen ähnliche Erziehungsvorstellungen haben und eine gute Beziehung untereinander pflegen.

Elternsein als Chance

Eltern – und zwar Mütter und Väter gleichermaßen – brauchen weit mehr Wertschätzung und müssen um den unschätzbaren Wert ihrer Arbeit mit ihren Kindern und für deren Zukunft wissen. Sie brauchen selbst mehr Unterstützung, Orientierung und Beratung, denn dies ist eine körperlich und emotional höchst anstrengende und vielseitig anspruchsvolle Aufgabe. Eltern werden, wenn sie sich auf die Beziehung und Erziehung ihrer Kinder wirklich einlassen, vor neue Herausforderungen gestellt, die oft nicht einfach sind und wozu man auch Hilfe beanspruchen darf (wie Beratungsstellen oder Kinder- und Jugendlichen- Psychotherapeuten, Hebammen oder andere „Frühe Hilfen“, familienorientierte Eltern-Kind-Zentren).
Man hat aber dabei – wie bei sonst kaum einer Aufgabe (auch kaum einer beruflichen) – die Möglichkeit, selbst daran zu wachsen, auch wenn es manchmal finanzielle Einschränkungen bedeuten mag. Man sollte dabei bedenken, dass es sich jeweils nur um wenige Jahre handelt. Das ist nicht viel, wenn man dagegen etwa 40 Jahre Berufsleben auf die Waage legt. Diese wenigen Jahre bedeuten keinen „Verlust“, sondern können im Gegenteil einen unschätzbaren, langfristigen Gewinn bringen. Nicht nur für das Kind und seinen weiteren Lebensweg, sondern auch für die Persönlichkeit der Eltern und die ganze Familie.

„Was ist ein Kind?
das, was das Haus glücklicher, die Geduld größer, die Hände geschäftiger,
die Nächte kürzer, die Tage länger,
die Liebe stärker
und die Zukunft heller macht.“
(Autor unbekannt)

Die Eltern können selbst ganz neue Erfahrungen machen und Möglichkeiten entdecken, wie:

  • Sinnhaftigkeit erfahren, die darin liegt, dem Kind eine möglichst gute Basis von Beziehung und Vertrauen zu schaffen als Voraussetzung für ein gelingendes Leben und für die bestmögliche Entfaltung seiner Fähigkeiten
  • Verantwortung übernehmen, die nicht ersetzbar ist
  • Aufbauen intensiver, lebenslanger Beziehungen
  • Gemeinsame Erlebnisse haben in einer unwiederbringlichen, einzigartigen Zeit in einem ganz besonderen, prägenden Lebensabschnitt
  • Einfühlung und Fürsorge leben
  • Angemessene, altersgerechte Kommunikation und Konfliktfähigkeit üben
  • Gestaltungsmöglichkeiten und Raum für Kreativität und neue Erfahrungen nutzen
  • es können sich neue, tief bereichernde Dimensionen des Lebens eröffnen
  • wir können vieles von unseren Kindern lernen
  • Werte und Erziehungsziele vermitteln
  • Orientierung geben und Vorbild sein
  • Zuwachs an Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung

Nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern profitieren langfristig davon,
je mehr sie selbst in die frühe Kindheit ihrer Kleinen investieren, denn später haben sie es umso leichter. Nicht nur aufgrund der besseren Entwicklungschancen (mit den entsprechenden Folgen von besserer Stabilität, Motivation, Beziehungsfähigkeit und gesunder Leistungsbereitschaft) die sie ihrem Kind mitgegeben haben, sondern auch aufgrund einer besseren Beziehung zwischen den Eltern und ihren Kindern/Jugendlichen.

Mögliche politische Konsequenzen

Die Frau hat sich, meist ebenso gut ausgebildet wie der Mann, in Richtung Lebensmodell des Mannes entwickelt. Dass der Mann in den Möglichkeiten, sein Vater-Sein mehr zu leben, neue Chancen sieht, ist erst in den Anfängen. Wünschenswert wäre, dass beide Eltern sich die Aufgaben und Herausforderungen mit ihren Kindern – partnerschaftlich und individuell angemessen – teilen können und dass sie darin von der Gesellschaft und Politik unterstützt werden.

Leider investiert die Politik derzeit einseitig viel Geld für den Ausbau von Kindertagesstätten und noch lange nicht genug für eine gute Qualität.
Während für einen ganztägigen Kita-Platz U3 die Betriebskosten sich derzeit auf ca. 1250 € pro Monat belaufen (26), liegen sie bei der Kindertagespflege bei durchschnittlich 460€ (27). Wohlgemerkt, das sind nur die Betriebskosten, Investitionen nicht mitgerechnet.

Dabei lässt man den Eltern kaum eine Wahl. Denn die Reallöhne sind in Deutschland seit dem Jahr 2000 gefallen und außerdem gibt es ein größeres Gefälle zwischen höheren und niedrigeren Einkommen, sodass häufig nur ein Einkommen für die Familie schon wegen der hohen Miete nicht ausreicht.
Vor allem Alleinerziehende stehen unter Druck, da sie seit 2008 spätestens zum 3. Geburtstag ihres Kindes wieder voll arbeiten müssen. Viele sind schon ab dem ersten Geburtstag aus finanziellen Gründen darauf angewiesen.

Langfristig weit sinnvoller und auch für die Zukunft vermutlich finanziell insgesamt deutlich günstiger wäre es, in die Unterstützung von Familien zu investieren.

Das könnte folgendermaßen aussehen:

  • 2, besser 3 Jahre bezahlter Elternurlaub pro Kind (aufgeteilt für Vater und Mutter)
  • Für Unternehmen verpflichtend: Halbtagesstellen für Eltern zu schaffen, auch nach den ersten 3 Lebensjahren eines Kindes
  • Angemessene Bezahlung der häuslichen Erziehungsarbeit – inklusive
  • Anrechnung der gesamten Erziehungszeit auf Rentenanspruch über die ersten 3 Jahre hinaus, entsprechend einer angemessenen beruflichen Tätigkeit
  • Unterstützung für individuelle häusliche Betreuung wie Kinderfrau
  • Verstärkter Einsatz von Hebammen und Familienhelferinnen und anderen Frühen Hilfen im ersten Lebensjahr, bei Bedarf auch später
  • Ausbau von Beratungsstellen und Elternschulen
  • Ausbau von Familienzentren, welche die Familien als solche unterstützen und beispielsweise verstärkt Fortbildungen und Beratungen für Eltern anbieten, sowie Kommunikation und Gemeinschaft fördern.
  • Massive Verbesserung der Krippenqualität, sodass tatsächlich verlässliche Bindungsbeziehungen zwischen Kindern und ihren ErzieherInnen aufgebaut werden können. Das bedeutet auch: Öffnungszeiten nicht ungeachtet des Kindeswohls und der Bindungssicherheit des Kindes zu erweitern
  • Objektive Aufklärung, auch über die Risiken der Krippenbetreuung

Nur so kann eine echte Wahlfreiheit bestehen!

Diese und ähnliche Investitionen wären langfristig gewinnbringend für Lebensqualität und für vielfältige Fähigkeiten unserer Kinder und unserer (zukünftigen) Gesellschaft.

Literatur

Quellenverzeichnis

  1. Schlussfolgerungen des Vorsitzes Europäischer Rat (Barcelona)
    15. und 16. März 2002, auffindbar unter: http://archiv.labournet.de/diskussion/eu/gipfel/rat.pdf
  2. Info der National Institute of Health über NICHD-Studie auffindbar unter: https://www.nichd.nih.gov/research/supported/Pages/seccyd.aspx
  3. Auf Homepage des Bundesministerium für Familie, Senioren und Jugend Info über „Frühe Bildung“: http://www.fruehe-chancen.de/
  4. Interview mit Belsky in „bild der wissenschaft“ auffindbar unter: http://www.wissenschaft.de/archiv/-/journal_content/56/12054/1529710/Jay-Belsky/
  5. Jay Belsky: The Politicized Science Of Day Care, A Personal and Professional Odyssey, Family Policy Review, 2003
  6. Rainer Böhm: Auswirkungen frühkindlicher Gruppenbetreuung auf die Entwicklung und Gesundheit von Kindern, Sozialpädiatrie aktuell, 2011, auffindbar unter http://www.fachportal-bildung-und-seelische-gesundheit.de
  7. Rainer Böhm: Stress – das unterschätzte Problem früher Betreuung,
    Vortrag vom 5.3.2016, auffindbar im Fachportal s.o.
  8. Burghard Behncke: Aktuelle Studien zu psychosozialem Stress in früher Kindheit, Vortrag vom 25.5.2013, auffindbar unter
    http://www.fuerkinder.org/files/1Psychosozialer_Stress-Behncke.pdf
  9. Jesper Juul: Wem gehören unsere Kinder? S.5, Beltz Verlag, 2012
  10. Annika Pogner: Fremdbetreuung von Kindern unter 3 Jahren, Eine pädagogische Auseinandersetzung mit einer gesellschaftlichen Forderung. Examensarbeit von 2015 (Das Buch ist als E-Book zu kaufen, Leseprobe im Internet verfügbar)
  11. Rainer Stadler: Vater – Mutter – Staat: das Märchen vom Segen der Ganztagsbetreuung, Ludwig-Verlag, 2014
  12. Steve Biddulph: Was brauchen Kleinstkinder? in: „Mama, Papa oder Krippe?“ von E. Hermann und M. Steuer, 2010; im Internet als Leseprobe zugänglich, siehe (10)
  13. Rainer Böhm: Cortisol versus Bindung, Vortrag vom 28.2.2015 auf der Didacta.
  14. Kevin Milligan: Learning from Quebec’s Experience, Understanding Recent Research on Quebec’s Childcare Programme, University of British Columbia, 2005, auffindbar unter http://www.econ.ubc.ca
  15. Rainer Böhm: Die dunkle Seite der Kindheit, Artikel in der FAZ vom 4.4.2012, auffindbar im Fachportal Bildung s.o.
  16. Jürgen Wettig: Eltern-Kind-Bindung: Kindheit bestimmt das Leben, Artikel im Deutschen Ärzteblatt PP 5, Ausgabe Oktober 2006
  17. Gerald Hüther: Die Bedeutung emotionaler Sicherheit für die Entwicklung des kindlichen Gehirns, in: Karl Gebauer/Gerald Hüther (HG.): Kinder brauchen Wurzeln Patmos-Verlag, 2014
  18. Memorandum der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV), Kommission Öffentlichkeit und interdisziplinärer Dialog, 2007 https://www.dpv-psa.de/fileadmin/downloads/Archiv/Dokumente/Memorandum%20Krippenausbau%20DPV%2012%2012%2007.pdf
  19. Karl-Heinz Brisch: Die frühkindliche außerfamiliäre Betreuung von Säuglingen und Kleinstkindern aus der Perspektive der Säuglingsforschung, S.9, AKJP, 2009
  20. Richard Bowlby: Stress in day care, 2007, in Ralf Felix Siebler: Heim will!, S.47, Booksun, 2013
  21. Joachim Bensel: Qualitätssicherung in Kitas, Ein Entwicklungsprozess mit vielen Verantwortlichen, 2013, auffindbar unter: http://www.verhaltensbiologie.com/publizieren/fachartikel/PDF/KD28.pdf
  22. Nubbek-Studie auffindbar unter: http://www.nubbek.de/pages/kontakt.php
  23. Ralf Felix Siebler: Heim will!, S.45, Booksun, 2013
  24. Fabienne Becker-Stoll: Sofort abmelden! Zeit-Online, 03.07.2016 http://www.zeit.de/2016/28/kita-qualitaet-fabienne-becker-stoll
  25. Kindertagespflege in Stuttgart, Informationsbroschüre für Fachleute, zukünftige Tagesmütter, Tagesväter und Eltern, Jugendamt der Stadt Stuttgart, 2012
  26. Sabine Mänken /Bettina Hellebrand/Gabriele Abel: Die verkaufte Mutter. 21 Erfahrungsberichte zur Freiheit der modernen Frau, S.50, Quell Edition, 2015
  27. Rainer Stadler: Vater – Mutter – Staat: das Märchen vom Segen der Ganztagsbetreuung, S.30, Ludwig-Verlag, 2014

Empfohlene Literatur

Die folgenden 3 Beiträge möchte ich besonders empfehlen. Sie geben in Kürze
fachlich fundierte Informationen über psychologische Hintergründe:

  • Dr. Rainer Böhm, Vortrag. „Die dunkle Seite der Kindheit“ 2012 in
    www.fachportal-bildung-und-seelische-gesundheit.de (hier sind noch weitere lohnende Beiträge zu finden)
  • Krippenausbau in Deutschland – Psychoanalytiker nehmen Stellung (…) (siehe Quellenverzeichnis (18))
  • Steve Biddulph, Universität Melbourne, Autor, Familientherapeut, Aufsatz „Was brauchen Kleinstkinder“ (abrufbar als Leseprobe (Seite 41/42 in: „Mama, Papa oder Krippe von E. Hermann und M. Steuer)

Aktuelle Literatur zur Krippenbetreuung und Grundlagen zur frühkindlichen Entwicklung

  • Hanne K. Götze: Die Sehnsucht kleiner Kinder, Ares-Verlag 2019
  • Rainer Stadler: Vater – Mutter – Staat: das Märchen vom Segen der Ganztagsbetreuung, 2014, Ludwig-Verlag.
  • S.K.D.Sulz u.a.(Hrsg.) Schadet die Kinderkrippe meinem Kind? (Beiträge aus Wissenschaft und Praxis), 2018, CIP-Medien
  • Gordon Neufeld, Gabor Mate: Unsere Kinder brauchen uns, Genius-Verlag, 3. Auflage 2015, Brandes &Apsel-Verlag
  • Margot Sunderland: Die Neue Elternschule (Neurobiologie und Erziehung), Dorling Kindersley-Verlag, München 2017
  • Nicole Strüber, Die erste Bindung. Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen. Klett-Cotta, 2016
  • Frank Dammasch, M.Teising (Hrsg.): Das modernisierte Kind, 2 Aufl. 2015
  • Michael Hüter: Kindheit 6.7 , ein Manifest. Es ist höchste Zeit, mit unseren Kindern neue Wege zu gehen! Edition Liberi&Mundo 2018
  • Ralf Felix Siebler: Heim will! Argumente für die unverkürzte Elternschaft, 2013, BOOKSUN, Stuttgart.
  • Herbert Renz-Polster (Kinderarzt): Die Kindheit ist unantastbar, warum Eltern ihr Recht auf Erziehung zurückfordern müssen. Beltz-Verlag, 2014
  • Sabine Mänken /Bettina Hellebrand/Gabriele Abel (Herausgeberinnen): Die verkaufte Mutter. 21 Erfahrungsberichte zur Freiheit der modernen Frau, Quell Edition 2015,
  • Agathe Israel/Ingrid Kerz-Rühling (Hrsg.): Krippen-Kinder in der DDR, 2008, Brandes & Apsel.
  • Karl-Heinz Brisch, Grossmann, Köhler (Hrsg.) Bindung und seelische Entwicklungswege, Klett-Cotta, 3. Auflage 2010
    Karl-Heinz Brisch: Psychologie: Fundamentales Vertrauen, Zeit online www.zeit.de
    Archiv: Jahrgang 2012, August 25;
    Karl-Heinz Brisch: Kinderbetreuung: das Krippenrisiko, Zeit online www.zeit.de
    Archiv: Jahrgang 2014 August 04
  • Ursula Henzinger: Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit, Psychosozialverlag, 2017
  • Karl Gebauer/Gerald Hüther (HG.): Kinder brauchen Wurzeln, Patmos-Verlag, 2011
  • Jürgen Wettig: Schicksal Kindheit – Kindheit beeinflusst das ganze Leben, Fakten statt Mythen, Springer Verlag 2008

    Klassiker der Entwicklungspsychologie und Psychotherapie:

  • John Bowlby (1907-1990) Begründer der Bindungstheorie (WHO-Studie 1951)
    „Frühe Bindung und kindliche Entwicklung“ (1953), weitere Bücher über Bindung, Trennung und Verlust (1975, 1976, 1983)
  • Peter Fonagy, Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst,  6. Auflage Klett-Cotta 2018
  • Heinz Kohut (1913-1981) „Auf der Suche nach dem Selbst“ und   „Die Heilung des Selbst“
  • Donald W. Winnikott (gest. 1971) z.B. „Reifungsprozesse und fördernde Umwelt“
  • Bruno Bettelheim (1903-1990) „Ein Leben für Kinder, Erziehung in unserer Zeit“ 1987
    „Liebe als Therapie, Gespräche über das Seelenleben des Kindes“ 1989
  • Anna Freud (1895-1982) „Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung“
  • Kathrin Asper: Verlassenheit und Selbstentfremdung, 1987, Walter-Verlag. Besonders wird empfohlen das Kapitel: „Verlassenheit in der Mutter – Kind – Beziehung.“
    (Psychologische Hintergründe, anschaulich und kurz gefasst)
  • Daniel Stern: „Tagebuch eines Babys“, Piper 1991 und
    „Geburt einer Mutter“, Piper