Erfahrungen einer Mutter und Psychotherapeutin

Auf der Suche nach der richtigen Betreuung für ihre Zwillinge

Die Schwangerschaft und unser Plan

Als ich erfuhr, dass ich mit eineiigen Zwillingsjungen schwanger bin, war es für mich zuerst ein Schock: Ich war gerade einmal anderthalb Jahre selbstständig mit meiner eigenen Praxis für Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie. Wie sollte ich das alles nur unter einen Hut bekommen? Praxis und Zwillinge? 

Ganz selbstverständlich war uns Eltern schnell klar: Die Jungs müssen mit einem Jahr in die Kita. Eine andere Möglichkeit sahen wir absolut nicht. 
Schließlich war ich voller Verantwortungsgefühl für meine vielen jungen und hilfebedürftigen Patienten mit ihren Eltern. Niemals könnte ich sie länger als ein Jahr im Stich lassen! Und selbst ein Jahr wäre viel zu lang gewesen!
Ich entschied mich also dazu, nach meinem Mutterschutz nach 3 Monaten die Praxis weiterzuführen und arbeitete bis 5 Tage vor dem Kaiserschnitt noch Vollzeit. 

Das erste Lebensjahr

Meine Jungs kamen als Frühchen zur Welt und mussten noch 5 Wochen intensivmedizinisch betreut werden. Dennoch ging ich nach 3 Monaten wie geplant für 2 Patientenstunden täglich wieder los. Dies tat ich ein halbes Jahr lang, während die beiden Jungs Zuhause von ihrem Papa betreut wurden. Mit der Zeit allerdings wurde das Band zwischen den Kleinen und mir immer stärker und fester. Auch ich hatte Schwierigkeiten mich zu trennen und meine Kinder zurückzulassen, obwohl ich wusste, dass sie bei ihrem Papa gut aufgehoben waren. Als die Zwillinge etwas über einem 3/4 Jahr alt waren, änderte ich meine Arbeitszeiten dann auf 2 Tage pro Woche. Neben meinem Mann übernahm einmal in der Woche meine Schwiegermutter die Betreuung. 
Mit großen Schuldgefühlen gegenüber meinen Kindern war ich an 2 Tagen pro Woche in der Praxis und mir wurde klar: Eine tägliche Trennung, wenn die Zwillinge 12 Monate alt sind, kann und will ich meinen Kindern und mir nicht zumuten. Mein Mutterherz blutete buchstäblich bei solchen Gedanken. Viel zu früh war die Geburt gewesen und viel zu früh wäre die Trennung durch einen Kitaeintritt mit einem Jahr. 

Meine Beobachtungen und Änderung des Betreuungsplans

Mein Aha-Erlebnis hatte ich in der Krabbelgruppe, die einmal wöchentlich in der Kita stattfand. Meine Zwillinge waren 10 Monate alt, als eine der Mütter über ihr kleines krabbelndes Baby sagte: „Und nächste Woche startet die Eingewöhnung „. Ich betrachtete das hilflose Baby, das krabbelnd den Raum erkundete, noch nicht laufen konnte und noch nicht sprechen, während eine andere Mutter antwortete: „Ach die Eingewöhnung geht sicherlich schnell. Er kennt ja die Räume schon!“ Die Mutter des Kindes antwortete: „Ich hoffe, denn ich muss in 3 Wochen wieder arbeiten. Ich habe aber meine Arbeitszeit reduziert auf 35 Stunden“. Ich schwieg, betrachtete meine Jungs, die etwas schüchtern aber neugierig krabbelnd den Raum erkundeten und das Geschehen beobachteten und dachte nur:“ Nein, ihr dürft und sollt noch ein bisschen mehr Mama haben!“ Ungewollt und automatisch versetzte ich mich in die Lage eines 12 Monate alten Kindes, das getrennt von seiner Mutter mit vielen fremden Kindern und fremden Erwachsenen, einem hohen Geräuschpegel mit unüberschaubaren Situationen mindestens 7 Stunden allein gelassen wird. Ich spürte Angst, Hilflosigkeit, Panik und Verlassenheit…. Versetzt in die Situation dieses kleinen Jungen aus der Krabbelgruppe war mir völlig klar, dass ich meinen Kindern dieses Erleben ersparen wollte. Ich sah es als meine Pflicht als Mutter, sie vor diesen furchtbaren Gefühlen zu schützen. 

Beobachtungen in der Krippe

Ab diesem Moment begann ich, unsere Besuche in der Krabbelgruppe aus dem psychoanalytischen Blickwinkel zu betrachten. Ich beobachtete, wie die ErzieherInnen in den Krippengruppen auf die Kinder reagierten: Ob sie in der Lage waren, weinende Kinder zu trösten, ob und wie präsent sie waren und beobachtete ganz im Allgemeinen das Geschehen. 

  • Die wenigsten Kinder konnten in ihren Bedürfnissen wahrgenommen und angemessen reguliert  oder getröstet werden. Nicht nur die Kinder, sondern auch die ErzieherInnen waren überfordert mit der Situation.
  • Insbesondere fielen mir die Abholsituationen auf: Ich sah viele Kinder, die sich, wie ich annahm, doch freuen mussten, wenn sie nach 7,8,9 teilweise 10 Stunden endlich wieder abgeholt wurden. Aber sie liefen weg und schrien: „Ich will nicht mit nach Hause!“ 
  • Kleinkinder im Alter von anderthalb bis zwei Jahren, die brav im Raum saßen oder wie die großen Kinder am Essenstisch: Still, willenlos eingefügt und angepasst ins Gruppengeschehen, ohne den natürlichen Antrieb, die Welt zu erkunden. Unlebendig und interessenlos. Spielunfähig. Die Trennung schien diese kleinen Kinder in ihrer Lebens- und Entdeckerfreude zu lähmen.
  • Anderthalbjährige Kinder, die ordentlich am Tisch saßen, brav aßen und den kindlichen Drang nach Matschen unterdrückten. Auch in anderen Situationen beobachtete ich, dass der Drang, die Umwelt, zu erfassen und zu begreifen, der natürliche Antrieb nach Exploration und Erkundung – d.h. zu lernen! insgesamt enorm reduziert waren. 

Beobachtungen aus meiner Psychotherapeutischen Praxis  

Als ich 2018 aus Niedersachsen in das Berliner Umland nach Brandenburg zog, erlebte ich sehr viele trennungsängstliche Kinder, die mich in meiner Praxis aufsuchten. Ein Großteil von ihnen wurden von ihren Eltern bei mir vorgestellt, weil sie sich weigerten, die Kindertagesstätte oder die Schule zu besuchen. Zudem hatten viele meiner jungen Patienten emotionale Auffälligkeiten: Sie klammerten sich an die Eltern, waren entweder besonders weinerlich oder wurden besonders schnell wütend, fühlten sich unverstanden, alleine gelassen und ungeliebt. Sie litten unter Panikattacken und Angstzuständen. Der andere Teil, der bei mir Hilfe suchte, waren die besonders aggressiven Kinder und Jugendlichen, die im Kindergarten und in den Schulen auffielen, weil sie sich nicht an Regeln hielten. Beide Seiten, die depressiv-zurückgezogenen Kinder und Jugendlichen sowie die aggressiven, begleitete eine gewisse Halt- und Bindungslosigkeit, die für mich zwar deutlich spürbar, aber dennoch nur schwer zu verstehen war. 

Die Eltern, aber auch meine jungen Patienten begründeten ihre Auffälligkeiten durch die Missstände in den Schulen und zeichneten ein Bild von Gewalt unter Schülern und überforderten Lehrern. 
Woran konnte es liegen, dass sich die Lage insbesondere in den Schulen so zuspitzte und anscheinend niemand in der Lage war, Herr der Situation zu werden? Ich suchte nach Antworten. 
Ich fand diese tatsächlich erst als ich selbst Mutter wurde und mir das Trennungs-Geschehen der kleinen hilflos-verlassenen Kinder in der Krippe und in der Kindertagesstätte vor Augen geführt wurde, das offenbar in Zusammenhang mit diesen späteren Problemen stand.

Der neue Plan festigt sich

Als meine Zwillinge fast 2 Jahre alt waren, hatte ich das nächste Erlebnis, das mich einerseits zum Nachdenken brachte und andererseits meine Entscheidung, sie erst ab 3 Jahren in den Kindergarten zu geben, bestätigte: Ich war allein mit meinen Kindern einkaufen. Meine Zwillinge liebten es mit mir einkaufen zu gehen, während es für mich immer eine Stresssituation war. Aus dem Zwillingseinkaufswagen heraus, den ich in der benachbarten Drogerie auslieh, wollten sie alles anfassen: Das Obst, das Gemüse, das Fleisch, sie wollten aussteigen, um die Artikel im Supermarkt anzufassen, um zu begreifen, wie sich diese anfühlten, welche Form sie haben und am liebsten hätten sie gern alles, was der Supermarkt zu bieten hatte, geöffnet und probiert. Bei den Lebensmitteln, die sie bereits kannten, wurden sie ganz aufgeregt und verlangten: Kaufen!“
In so einer – für mich angespannten- Situation kreuzte plötzlich eine Tagesmutter mit einem Bollerwagen meinen Weg. In diesem saßen 5 Kleinkinder im Alter von 1,5 bis 3 Jahren. Obwohl sie nicht einmal angeschnallt waren und somit jederzeit den Bollerwagen selbstständig hätten verlassen können, blieben sie brav sitzen. Keines der Kinder unternahm auch nur den Versuch auszusteigen, um die vielen interessanten Dinge aus dem Supermarkt sich näher anschauen zu können. Kein einziges Kind! 
Wie konnte es denn möglich sein, dass ich Mühe hatte, meine 2-jährigen Jungs unter Kontrolle zu halten, während eine Tagesmutter mit 5 Kleinkindern einkaufen konnte ohne Nervenzusammenbruch? Ich machte mir viele Gedanken über diese Kinder: Wären diese Kinder auch so brav, wenn sie mit ihren Eltern unterwegs wären? Vermutlich nicht. Wären meine Zwillinge so brav gewesen, wenn sie mit in dem Bollerwagen gesessen hätten? Vermutlich schon. Verlassen. Angst lähmt.

Überlegungen aus psychologischer Sicht

Wenn Verlust- und Verlassenheitsängste einem Menschen zu schaffen machen -seien es Kinder oder Erwachsene- ist das innerliche Notfallsystem aktiviert. Für das Notfallprogramm sind Joghurt, Marmelade und Wurst nicht wichtig. Wichtig ist das seelische und körperliche Überleben. Dies gelingt, indem man sich der ausweglosen Situation anpasst. Das nach außen hin liebe und brave Sitzen im Bollerwagen oder am Essenstisch ist also keine Erziehungsleistung in dem Sinne wie Eltern, ErzieherInnen und die Politik einem das gerne weis machen wollen. Es sind in Wirklichkeit Anpassungsleistungen eines Kleinkindes aus einer inneren Not heraus. 

Wollen wir dieses Verhalten wirklich? Wir als Eltern und wir als Gesellschaft? Wollen wir Kinder, die sich selber nicht mehr spüren, weil sie viel zu früh lernen mussten, ihre Ängste, Trauer und ihre elementaren Wünsche nach Nähe, Hilfe, Geborgenheit und vertrauten Menschen nicht wahrzunehmen? Kinder, die teilweise haltlos durch das Leben gehen? Wollen wir das? 
Ich persönlich kann als Mutter und Psychotherapeutin klar sagen, dass ich das für meine Kinder nicht möchte. Meine Jungs wachsen weitestgehend frei und unverbogen auf. Sie haben die Zeit und die Chance, ein stabiles Selbst und ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln, die Welt kennenzulernen ohne sich verfrüht an institutionelle Bedingungen anpassen zu müssen und vor allem ohne Gefühle beiseite schieben zu müssen. Das ist mir unglaublich wichtig.[1]

Meine Kinder dürfen sich frei und geborgen fühlen

Wir haben einen festen Tagesablauf, beispielsweise sind wir vormittags immer mit dem Hund in der freien Natur unterwegs. Dabei lernen meine Kinder nicht, wie man etwas bastelt oder wie man „vernünftig“ Essen zu sich nimmt. Sie erfahren sich selbst. Und das ist so schön zu betrachten, unglaublich viel wert und doch leider viel zu selten. 

Der Soziale Druck

Wir wohnen in den neuen Bundesländern, in Brandenburg im Berliner Speckgürtel, in denen fast jedes Kind unter 3 Jahren fremdbetreut wird. Ich werde fast täglich angesprochen und gefragt, wann denn endlich meine Jungs in die Kita gehen würden und warum sie eigentlich immer noch nicht gehen. Die Gründe lege ich oft dar und dennoch scheinen Bindung und Entwicklung Dinge zu sein, die viel zu wenig thematisiert werden. Ich bekomme oft Antworten wie z.B. „Aber die brauchen doch andere Kinder, die bleiben doch dumm, als Mutter muss man sich auch trennen können, du bist so eine typische Wessimutter, es wäre mir ja viel zu langweilig, so lang Zuhause zu bleiben, wofür hast du denn studiert? Was machst du denn dann den ganzen Tag?…“ Am Anfang ärgerte ich mich über solche Kommentare, fühlte mich persönlich angegriffen und in meinem Muttersein nicht wertgeschätzt. Überall wird vermittelt, dass es „frühe Bildung“ bedeutet, wenn die Kinder in die Krippe gehen und dass Mütter nicht in der Lage seien, ihren Kindern das zu geben, was sie brauchen. 

Mittlerweile weiß ich, dass es viele Eltern gibt, die es einfach nicht besser wissen und es vielleicht manchmal auch nicht besser wissen wollen. Ich hoffe mit meinem Erfahrungsbericht ein wenig zur Aufklärung beitragen zu können. 

Nach all diesen Erfahrungen kann ich die oben beschrieben emotionalen und sozialen Probleme meiner Patienten und die unhaltbaren Zustände in den Schulen nun besser auch als Spätfolgen der umfassenden Frühbetreuung verstehen. Denn die Basis von emotionaler Stabilität, einem guten Selbstwertempfinden, Sozialkompetenz und Interesse am Experimentieren und Lernen entwickelt sich in den ersten Lebensjahren in sicherer Bindung. 

Leider werden diese Zusammenhänge im Allgemeinen nicht gesehen.

Appell an die Politik

Ich appelliere aus fachlicher Perspektive an die Politik, junge Eltern finanziell viel stärker zu unterstützen. Stattdessen wurde nun beschlossen, das Elterngeld weiter zu kürzen. Dies ist nicht nur ein Weg in eine haltlose Gesellschaft. Es suggeriert auch, dass Mutterschaft bzw. Elternschaft nichts wert ist. Dieses Feedback bekomme ich teilweise auch, wenn ich berichte, dass meine Zwillinge erst ab 3 Jahren in die Kita gehen werden. Dass aber genau das Gegenteil der Fall ist, darüber wird viel zu wenig informiert.

Stefanie Füllgrabe 


[1] https://gute-erste-kinderjahre.de/anpassungsleistungen-von-krippenkindern-gisela-geist/