„Ich mache mir immer noch Vorwürfe, wie wir unserem Kind dieses Leid zumuten konnten „
Interview mit A. Tichy
Eingewöhnung meines Sohnes T. (*Mai 2014)
Unseren ersten Eingewöhnungsversuch starteten wir im Juni 2016. Ich war schon vorher eher skeptisch. T. war mit seinen gerade mal zwei Jahren natürlich meistens am liebsten bei mir. Bei Papa und Oma blieb er auch gern, und seinen Opa liebte er sogar so sehr, dass er mich vergaß, sobald Opa da war. Oftmals bekam ich nicht mal ein „Tschüss“ zugerufen, wenn Opa kam. So schnell war T. mit ihm in Richtung Auto unterwegs (Opa holte ihn einmal in der Woche ab). Aber seine Großeltern (und uns natürlich) kennt T. schon so lange, und sie sind ihm so vertraut, dass er dort auch eine gute und starke Bindung aufbauen konnte. Bei etwas weniger bekannten Menschen (Patentante, Freunde von uns), wäre T. zu diesem Zeitpunkt nicht allein geblieben. Ein Verhalten, welches ich auch völlig altersgerecht und sinnvoll finde.
Da ich wieder 10 Stunden in der Woche arbeitete, seit T. ca. 20 Monate alt war, wäre ein Platz im Kindergarten aber eine Erleichterung gewesen. Davon war jedenfalls mein Mann überzeugt. Ich überließ daher auch ihm die Eingewöhnung. Ich wollte nicht, dass sich meine Skepsis auf T. übertrug.
Auch mein Mann merkte jedoch ziemlich bald, dass diese „Eingewöhnung“ keine wirkliche Eingewöhnung war. Ein Bezugserziehersystem gab es nicht: Es habe eh immer einer Urlaub, Fortbildung oder es sei jemand krank. Da mache es keinen Sinn, Kinder an eine Person zu gewöhnen …
Auch war T. mit seinen zwei Jahren schon ein eher „altes“ Kind. Mit diesen gab man sich in der Krippe anscheinend auch nicht mehr so viel Mühe.
Kinder, die kurz zuvor „eingewöhnt“ wurden (sie gaben jedem Kind zwei Wochen Zeit, dann kam die nächste Eingewöhnung), weinten zum Teil durchgehend, während mein Mann mit unserem Sohn in der Gruppe war (teilweise war er zwei Stunden dabei). Mein Mann sagte gleich, dass wir unseren Sohn nicht so weinend dort lassen würden. Die Antwort war, das sei normal: „Tränen gehören dazu!“
Ich versuchte meinen Mann darin zu bestärken, dass dem nicht so sei. Ich kenne Eingewöhnung anders und zumindest etwas kindgerechter. Oft liefen sie auch ohne Tränen ab (ich arbeitete in einem anderen Kindergarten).
Nach ein paar Tagen sollte mein Mann die Gruppe zum ersten Mal verlassen, das war soweit noch okay für T. Am folgenden Tag ging sein Papa dann ganz aus der Einrichtung. T. weinte, beruhigte sich aber laut ihm schnell. Er hatte an der Tür gelauscht und auch beim Anruf in der Einrichtung versicherte man ihm, es sei alles gut. Am nächsten Tag wollte T. nicht, dass Papa geht, er ging trotzdem. „Es brach mir das Herz!“, sagte er … trotzdem ließ er ihn weinend zurück. Während ich das schreibe, kommen mir die Tränen und mein Magen krampft sich zusammen. Seit diesem Tag war mein Sohn verändert. Am nächsten Tag wollte er auf keinen Fall mehr aus dem Haus, als es hieß, wir gehen zum Kindergarten. Wir pausierten. Am folgenden Tag ging ich mit, ich ließ ihn nicht allein. T. spielte. Am kommenden Tag ging ich auch wieder mit. Auch ich erlebte – wie mein Mann zuvor – an beiden Tagen diese armen Kinder, die völlig haltlos, nicht wirklich eingewöhnt, allein gelassen in der Gruppe standen. Dieses Mädchen, welches weinte und kläglich „Mama“ rief. Sie hielt sich an mich, hielt meine völlig fremde Hand. Ich kann nicht verstehen, wieso die Eltern nicht benachrichtigt wurden. Und dann der andere kleine Junge. Immer wieder rief er weinend „Papa“. Es war grausam.
Als man mir sagte, es sei nicht länger vorgesehen, dass wir als Eltern bei T. in der Gruppe bleiben würden, war für mich klar: Allein bleibt er hier ganz sicher auch nicht. Wir brachen die Eingewöhnung ab. Zu spät. Mein Sohn war traumatisiert. Er blieb in den darauf folgenden Wochen und Monaten weder ohne mich bei Oma noch bei seinem Papa. Und auch nicht beim geliebten Opa. Er schrie panisch, als dieser kam und ihn abholen wollte.
Erst drei Monate später, ohne eine einzige Trennung von mir und nach viel gemeinsamer Zeit mit Papa in unserem gemeinsamen Urlaub, blieb er auch wieder ohne mich (mehr oder weniger) gern bei Papa. Ich danke heute noch meiner Chefin im Kindergarten, in dem ich arbeitete, dass ich T. damals zu meinem Dienst mitbringen durfte. Wie hätte ich es übers Herz bringen sollen, ihn, verstört wie er war, woanders zu lassen?
Nach fünf Monaten probierten wir eine neue Eingewöhnung in „meinem“ Kindergarten. Leider konnte er nicht in meine Gruppe aufgenommen werden. Auch hier wollte T. nicht bleiben … schlussendlich durfte er in meine Gruppe wechseln, nachdem er mich verzweifelt darum bat, ihn nicht allein bei den „Fledermäusen“ zu lassen.
Wir fanden einen Kompromiss. T. kam an meinen beiden Arbeitstagen mit mir und ging zwei weitere Tage (für drei bis vier Stunden) ohne mich in unsere Gruppe (eine der Erzieherinnen dort war eine enge Freundin von mir und T. kannte sie gut). Am fünften Tag blieb er zuhause. Ich merkte, dass er nur kooperierte. Es gab einen einzigen Tag, an dem er sagte: „Ich will jetzt in die Krippe.“ An allen anderen Tagen spürte ich, dass er mir zuliebe ging. Wir hatten die Abmachung, dass er, wenn er heim will, meiner Freundin Bescheid geben konnte und sie mich anrief. Dies kam dann auch an zwei Tagen vor und ich holte ihn wieder ab. Ansonsten blieb er und spielte auch. Es ging ihm also scheinbar nicht schlecht damit.
Doch nach wenigen Monaten wollte er plötzlich auf keinen Fall mehr in die Kinderkrippe. Wir waren 14 Tage gemeinsam im Urlaub. Ob die lange gemeinsame Zeit der Auslöser war oder etwas passiert war, was ich bis heute nicht weiß, kann ich nicht sagen. T. wollte selbst an den Tagen, an denen ich in der Gruppe war, nicht bleiben, sondern wieder heim. Glücklicherweise konnte mein Mann frei machen und bei ihm bleiben, bis ich heimkam. Gott sei Dank erkannten wir diesmal sofort seine Not und nahmen sie ernst. Ich sollte zu diesem Zeitpunkt wieder eine halbe Stelle annehmen und somit jeden Tag arbeiten müssen. Gleichzeitig wurde meine Tochter eingeschult. Sie sollte und wollte nicht in die Ganztagsschule. Also nutzte ich die Gelegenheit und beantragte Sonderurlaub. Dieser wurde mir glücklicher- und dankenswerter Weise bewilligt. So konnte ich T. ab sofort selbst betreuen und auch für meine Tochter ab 12 Uhr mittags ganz da sein.
Es ist wirklich schwierig, darüber zu schreiben. Ich mache mir noch immer Vorwürfe, wie wir unserem Kind dieses Leid zumuten konnten. Er wurde vor der gescheiterten Eingewöhnung (und auch danach dann wieder) immer ernst genommen mit all seinen Bedürfnissen. Wie konnten wir ihn nur so plötzlich vollkommen im Stich lassen? Wir haben sein Urvertrauen angeknackst. Es tut weh, dies so zu schreiben, aber es ist so. Mit viel, viel Liebe, Zeit und Geduld konnten wir die Wunden heilen. Es sind sicher Spuren zurückgeblieben in seiner kleinen Seele. Aber heute löst er sich ganz bewusst und auch selbstständig von uns. Er will seine Freunde besuchen, zu den Großeltern gehen, und wenn ich „zu früh“ komme, um ihn abzuholen, werde ich wieder weggeschickt. Ich bin so froh, dass er sich von seinem Trauma so gut erholen konnte. Doch das war ein langer, aufwendiger Weg, der es aber natürlich vollkommen wert war. Allen anderen Eltern, die in dieser Situation sind, kann ich nur raten: Lasst es nicht so weit kommen. Bewahrt euer Kind vor diesem Schmerz, dem Leid. Nichts in der Welt kann es wert sein, dass wir unser Wichtigstes, unsere Kinder, verkaufen.
Es ist eine Lüge, dass Tränen dazu gehören, es ist eine Lüge, dass es nun mal so sein muss. Es gibt immer Alternativen, andere Wege, Lösungen. Es kostet vielleicht mehr Zeit und/oder Geld, doch das sollte uns die (emotionale) Gesundheit unserer Kinder wert sein. Kinder(seelen) unter drei sind so zerbrechlich, so abhängig. Sie brauchen eine verlässliche Bezugsperson. Sie brauchen Sicherheit und Geborgenheit. Und ganz sicher brauchen sie noch nicht zwangsweise andere (unglückliche) Kinder um sich herum. Wenn Kinder andere Kinder brauchen, dann fordern sie dies ein. Dann sind sie aber auch in einem Alter, in dem sie dies ganz klar und deutlich verbal artikulieren können. So wie mein Sohn seit einigen Monaten nahezu an jedem Morgen sagt: „Mama, kann ich zu M?“, kaum dass er seine Augen aufgeschlagen hat.
Aus dem Buch:
Serge K. D. Sulz, Alfred Walter, Florian Sedlacek (Hrsg.)
Schadet die Kinderkrippe meinem Kind?
Worauf Eltern und Erzieherinnen achten und was sie tun können,
CIP-Medien, 2018, ISBN 978-3-86294-063-9
Mütter berichten über ihr Kind in der Kinderkrippe
Serge K. D. Sulz und Andrea Tichy