von Dr. Erika Butzmann
Die Fürsorgearbeit des Vaters
In der gesellschaftlichen Diskussion um die Beteiligung der Väter an der Familienorganisation gibt es immer häufiger die Forderung, Väter sollen bereits im ersten Lebensjahr die Betreuung der Kinder übernehmen. Immer mehr Väter sind bereits dabei, zu jeder Tages- und Nachtzeit Windeln zu wechseln, zum Vater-Kind-Turnen zu gehen und ihre Runden auf dem Spielplatz zu drehen, sobald die Kinder laufen können. Doch wie sieht es mit der Fürsorgearbeit im ersten Lebensjahr aus? Liegt es nur an den Müttern, die den Vätern diese Arbeit nicht zutrauen, wie dies viele FachwissenschaftlerInnen und die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm (2018) annehmen? Die Bindungsforschung und die Erkenntnisse der Neurobiologie zeigen jedoch, dass es weniger um das Zutrauen der Mütter geht, sondern die Voraussetzungen bei den Kindern und den Vätern können einer frühen Fürsorgearbeit entgegenstehen. Das soll im Folgenden dargelegt werden.
Die frühe Fürsorgearbeit mit dem Baby ist für Väter ein Lernprozess, da sie nicht über den hormonellen Zuwendungsantrieb verfügen, den Müttern naturgegeben aufgrund des Oxitocins haben. Die Testosteronfreisetzung muss über die Beschäftigung mit dem Baby heruntergefahren werden, damit auch beim Vater Oxytocin freigesetzt wird, das empathisches Verhalten ermöglicht. Dazu müssen bestimmte Voraussetzungen vorhanden sein, denn die Hirnchemie ist nicht willentlich beeinflussbar (Strüber 2016, S. 206 ff.). Nicht jedem gewillten Vater gelingt das in jeder Situation. Hat der Vater die Möglichkeit fürsorglich und empathisch auf das schreiende Baby einzugehen und erlebt er Erfolg mit seinen Trostbemühungen, führt das zu einem Absinken der Testosteronfreisetzung. Kann er allerdings nichts gegen das Schreien unternehmen, steigt sein Testosterongehalt und die Empathiefähigkeit sinkt. Seine Fähigkeit, die kindlichen Signale zu deuten, wird verringert. Männer könnten demnach in einem Alltag, in dem sie Herausforderungen und Unsicherheiten ausgesetzt sind und sich behaupten müssen, aufgrund ihrer Testosteron-Freisetzung eine Hirnaktivität haben, die der feinfühligen und empathischen Fürsorge entgegensteht (Strüber 2016, S. 217). Empathisches Verhalten gelingt Frauen in solchen Situationen eher, da ihre Hirnchemie dies in der Regel nicht durch Testosteron verhindert. Allerdings kann ein hoch aktives Stresssystem bei der Mutter ebenfalls die Empathiefähigkeit einschränken, weil Stress den Oxytocinspiegel senkt.
Doch nicht nur vonseiten des Vaters gibt es möglicherweise Einschränkungen, auch das Kind hat seine eigenen Bedürfnisse, die eine Versorgung durch den Vater erschweren können. Wenn die Mutter zur Verfügung steht und sich einfühlsam um das Kind kümmert, hat der Vater während der Hauptbindungsphase an die Mutter in den ersten 12 bis 18 Monaten weniger Chancen, das Kind zu versorgen. Das gelingt ihm meistens nur dann, wenn die Mutter abwesend ist. Kommt sie zurück, ist das Kind häufig wieder ganz auf sie fixiert. Das kann für Kinder auch zu einer dramatischen Ausprägung führen, wie das nachfolgende Beispiel aus der Beratung zeigt: – Die Betreuung durch den Vater hat ein paar Wochen erstaunlich gut geklappt bei dem knapp einjährigen Kind. Es ist sogar beim Papa auf der Brust eingeschlafen. Dann ging es irgendwie nicht mehr. Die Eltern haben alles genauso gemacht wie vorher, aber das Kind hat wahnsinnig geschrien, als es dann wieder mit dem Papa allein war. Es hat jeden Raum abgesucht, um die Mutter zu finden und war total aufgelöst bis die Mutter zurückkam. Seit dem Vorfall will es gar nicht mehr zum Papa. Sobald er das Kind hochnimmt und die Mutter aus dem Sichtfeld ist, weint es bitterlich. – Hier wäre es notwendig, dass die Mutter vorübergehend die Versorgung des Kindes wieder voll übernimmt, denn das einjährige Kind steckt in der intensivsten Bindungsphase an die Mutter. Unter entwicklungspsychologischen Aspekten hat das Kind durch einen aktuellen Entwicklungsschub plötzlich die Trennung von der Mutter bemerkt, so dass es in Panik geriet. Vorher befand es sich in einem allumfassenden ‚ozeanischen Gefühl‘ (Freud 1930, S. 5ff.) ohne die Empfindung, von den anderen getrennt zu sein, so dass es sich auch beim Vater wohlfühlte.
In den Fällen, wo die Mutter aufgrund von psychischen Problemen keinen Zugang zum Kind findet und der Vater in der Lage ist, sich auf das Kind einzulassen, wird sich das Kind ihm vollkommen zuwenden und eine Primärbindung an ihn entwickeln. Ansonsten entwickelt sich die Bindung zwischen Vater und Kind in erster Linie über die Spieltätigkeit und die Förderung der Erkundungen des Kindes, wie dies alle bisherigen Studienergebnisse nahelegen (Camus 2001; Kindler 2002; Grossmann/ Grossmann 2008; Strüber 2016). Grossmann et. al. (2001) weisen nach, dass insbesondere die feinfühlige und vorsichtig herausfordernde Art der Beziehungsgestaltung des Vaters beim Spiel die Autonomieentwicklung des Kindes fördert. Die Spielaktivitäten nehmen natürlicherweise durch die Bewegungslust des Kindes im Laufe des zweiten Lebensjahres zu, so dass die Bindung an den Vater in dieser Zeit intensiviert wird. Mehrere Forscher betonen, dass die Identifikation mit dem Vater im zweiten Lebensjahr beginnt. Zwischen anderthalb und zwei Jahren kommt mit den Fortschritten in der Entwicklung und den Eroberungen im Bereich der Bewegung und der Sprache dem Vater diese besondere Rolle zu. Die Spiel- und Spaßaktionen, die der Vater schon mit dem Säugling betreibt, sind die Vorläufer für das Sicherheitsgefühl in Gegenwart des Vaters. Aus einer Langzeitstudie geht hervor, dass die Spiel-Feinfühligkeit des Vaters in einem engeren Zusammenhang mit der späteren Entwicklung des Kindes steht, als die Sicherheit der frühen Vater-Kind-Beziehung (Grossmann et. al. 2002).
So führen die unterschiedlichen Fähigkeiten von Männern und Frauen zu unterschiedlichen Einflüssen auf die Entwicklung des Kindes. Väter und Mütter ergänzen sich komplementär. Das dürfte auch damit zu tun haben, dass es Vätern in der vorsprachlichen Zeit schwerer fällt, die Signale der Kinder zu verstehen. Sie fühlen sich sicherer, wenn die Kinder ihre Bedürfnisse sprachlich anbringen können. Eine direkt auf die geschlechtsspezifische Gehirnstruktur basierende besondere Fähigkeit der Mütter verschafft ihnen einen Vorteil gegenüber den Vätern beim Umgang mit den vorsprachlichen Kindern. Die dichteren Verbindungen zwischen beiden Gehirnhälften ermöglichen ihnen eine bessere Interpretation des Verhaltens der Kleinstkinder (siehe unter: https://www.familienhandbuch.de/familie-leben/familienformen/muetter-vaeter/NeueVaeterinderheutigenGesellschaft.php) . Das gelingt auch durch die stärkere linkshemisphärische Benutzung des Gehirns bei Frauen; denn die mit den sprachlichen Fähigkeiten besonders gut ausgestattete linke Hemphisphäre unterliegt einem „Interpretationszwang“ (Roth 2001, S. 371); sie sucht für das, was geschieht, immer Erklärungen (Gazzaniga 2002, S. 33). So können Mütter eher die Signale des vorsprachlichen Kindes interpretieren, wodurch der Umgang mit den Kindern einfacher ist.
Unter diesen Aspekten ist es für die Entwicklung des Kindes vorteilhaft, wenn der Vater vorwiegend ab der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres die Betreuung des Kindes übernimmt. Denn dann ist die Bindung des Kindes an die Mutter relativ stabil, so dass es sich besser dem Vater zuwenden kann.
Im Sinne einer positiven Entwicklung des Kindes und unabhängig von wirtschaftlichen Interessen sollten Mütter die ersten 16 bis 18 Monate weitgehend ganztags für ihr Kind zur Verfügung stehen und in den nächsten 12 Monaten weiterhin halbtags. Der Vater sollte im zweiten Lebensjahr halbtags – also zeitgleich mit der Mutter – einsteigen, um die Weiterentwicklung des Kindes und seine Bindung zum Kind zu fördern, damit die Ablösung von der Mutter moderat gestaltet werden kann. Das müsste jedoch über mehrere Monate und vorwiegend in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres vonstatten gehen, damit es eine Wirkung für die psychische Stabilität des Kindes hat. Die beiden Vätermonate am Anfang des zweiten Lebensjahres haben kaum eine Wirkung, weil das Kind in der intensivsten Bindungsphase an die Mutter steckt und eine abrupte Trennung von ihr zur Stressbelastung beim Kind führt, was das Einlassen auf den Vater erschweren kann. Die von vielen Fachleuten derzeit fokussierte Mutter-Vater-Kind-Tryade von Beginn an ist dadurch keineswegs in Gefahr, da sich diese Tryade nur ein wenig später entwickelt und dann umso stabiler ist.
Väter fördern durch ihr Verhalten tendenziell eher die Selbständigkeitsentwicklung und Individualität des Kindes.
Die notwendige positive emotionale Basis zur Selbständigkeitsentwicklung wird in der Regel stärker durch die Mütter geschaffen.
Literatur
Camus, J. (2001). Väter. Die Bedeutung des Vaters für die psychische Entwicklung des Kindes. Weinheim: Beltz.
Freud, S. (1930). Das Unbehagen in der Kultur. Wien: Internationaler psychoanalytischer Verlag.
Gazzaniga, M.S. (2002). Rechtes und linkes Gehirn. Split-Brain und Bewusstsein. Spektrum der Wissenschaft Digest Rätsel Gehirn 3, 28-33.
Grossmann, K., Grossmann, K.E. (2008). Die psychische Sicherheit in Bindungsbeziehungen. Familiendynamik 33, 231-259.
Grossmann, K., Grossmann, K.E., Fremmer-Bombik, E., Kindler, H., Scheuerer-Englisch, H. & Zimmermann, P. (2002). The uniqueness of the child-father attachment relationship: Fathers‘ sensitive and challenging play as the pivotal variable in a 16-year longitudinal study. Social Development, 11, 307-331.
Kindler, H. (2002). Väter und Kinder. Langzeitstudien über väterliche Fürsorge und sozioemotionale Entwicklung von Kindern. Weinheim: Juventa.
Roth, G. (2001). Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt: Suhrkamp.
Seiffge-Krenke, I. (2004). Gut, dass sie anders sind! Psychlogie heute 3, 26-27.
Stamm, M. (2018) Neue Väter brauchen neue Mütter. Warum Familie nur gemeinsam gelingen kann. München: Piper.
Strüber, N. (2016). Die erste Bindung. Stuttgart: Klett-Cotta.
Erika Butzmann, Dr. phil.paed., M.A. ist seit 30 Jahren als Dozentin und Seminarleiterin in der Eltern- und Familienbildung und der Weiterbildung von Erzieherinnen und Tagespflegekräften tätig. Sie lehrte an einer Universität und führt Elternberatung in einer großen Kinderarztpraxis durch.